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Unternehmensverfassung

I. Begriff: Unter Unternehmensverfassung kann die Gesamtheit der konstitutiven und langfristig angelegten Regelungen für Unternehmen verstanden werden. Der Begriff ist seit Ende der 60er Jahre insbes. im Zusammenhang mit der Diskussion um die Mitbestimmung und um die Weiterentwicklung des geltenden Gesellschaftsrechts zu einem Unternehmensrecht aktuell geworden. Die Unternehmensverfassung ergibt sich aus gesetzlichen Regelungen, insbes. dem Wettbewerbs-, Kapitalmarkt-, Verbraucherschutz-, Gesellschafts-, Arbeits- und Mitbestimmungsrecht, aus kollektivvertraglichen Vereinbarungen wie Firmentarifverträgen und Betriebsvereinbarungen sowie privatautonomen Rechtssetzungen wie dem Gesellschaftsvertrag, der Satzung, den Geschäftsordnungen oder Unternehmensverträgen. Konkretisierend können höchstrichterliche Entscheidungen hinzutreten. Unternehmensverfassung umfaßt also die interne formale Machtverteilung zwischen den involvierten Interessengruppen (Unternehmensverfassung i. e. S.) und die sie ergänzenden extern ansetzenden Regelungen zum Schutz von verfassungsrelevanten Interessen (Unternehmensverfassung i. w. S.). Scharf davon zu trennen ist die faktische Einflußverteilung in Unternehmensverfassung (Modell und Wirklichkeit), wenngleich dieses insbes. für die Entwicklung und Reform der Unternehmensverfassung von höchster Bedeutung ist. - Vgl. auch internationale Unternehmensverfassung.
II. Grundfragen: Bei Analyse, Vergleich oder Gestaltung von Unternehmensverfassung stehen immer zwei grundlegende Fragen zur Diskussion: 1. Welche Interessen sollen die Zielsetzung und Politik der Unternehmung bestimmen bzw. bestimmen sie? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es darum, welche Interessen aus dem Kreis der prinzipiell verfassungsrelevanten Interessengruppen der Konsumenten, der Arbeitnehmer, der Kapitaleigner und dem öffentlichen Interesse die Unternehmensverfassung konstituieren bzw. konstituieren sollen (verfassungskonstituierende Interessen). Rein formal kann man dann zwischen interessenmonistischen, interessendualistischen und interessenpluralistischen Unternehmensverfassung unterscheiden. Interessenmonistische Varianten bilden die kapitalistische Unternehmensverfassung, wie sie in den handelsrechtlichen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden hat und noch heute die ökonomische Realität der westlichen Industrienationen prägt, und die (frühere) laboristische Unternehmensverfassung Jugoslawiens, die als Modell der Arbeiterselbstverwaltung allein auf den Arbeitnehmerinteressen gründete. Als interessendualistisch darf die Mitbestimmte Unternehmung gelten. Interessenpluralistische Verfassungen ergeben sich, wenn zusätzlich das öffentliche Interesse und/oder (partiell) Interessen der Konsumenten Verfassungsrang erhalten. - 2. Welche institutionellen Vorkehrungen sind geeignet bzw. getroffen, die Unternehmensaktivitäten auf die verfassungskonstituierenden Interessen auszurichten? Bei der institutionellen Ausgestaltung (Organisationsverfassung) müssen Regelungen über Entscheidungsgremien (Art, Zusammensetzung, Wahl, Kompetenzen), über den Ablauf der Entscheidungsprozesse in den Gremien (Vorsitz, Ausschüsse, Teilnahme und Beschlußmodalitäten) und über ihre Information im Rahmen der Entscheidungsvorbereitung (Planungsinformationen) und zur Kontrolle der Resultate der getroffenen Entscheidungen (Kontrollinformation) getroffen werden. Zur Debatte stehen hier (für Großunternehmen) i. d. R. die dreigliedrige Verfassungsstruktur mit Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand oder die zweistufige Lösung mit Hauptversammlung und Verwaltungsrat bzw. Board.
III. Wirtschaftsordnung und Unternehmensverfassung: Sowohl für das Verständnis von existierenden Verfassungen als auch für ihre Reform ist von zentraler Bedeutung, wie das Verhältnis von Wirtschaftsordnung und Unternehmensverfassung interpretiert wird. - 1. In der Sicht der klassischen liberalen Wirtschaftstheorie determiniert die Wirtschaftsordnung bzw. der Markt die Unternehmensverfassung (kapitalistische Unternehmensverfassung). Nach diesem Modell vollzieht sich der Interessenausgleich grundsätzlich im Markt. Das Unternehmen reduziert sich auf ein System von Vertragsbeziehungen zwischen den Produktionsmitteleigentümern und Abnehmern, Lieferanten, Arbeitnehmern und Fremdkapitalgebern. Übrig bleibt die Gesellschaft als Vertragsverbund der Kapitaleigner, die dann folgerichtig interessenmonistisch sein muß. Die Auszeichnung der Kapitaleignerinteressen ist insofern nicht willkürlich, sondern funktional für die Wohlfahrt aller. Die theoretische Begründung für diesen Zweck-Mittel-Zusammenhang lieferte die mikroökonomische allgemeine Gleichgewichtstheorie mit dem Marktmodell der vollkommenen Konkurrenz. - 2. Im Lichte der neueren Industrieökonomik erscheint diese Interpretation des Verhältnisses von Markt und Unternehmensverfassung jedoch fragwürdig. Insbes. Großunternehmen verfügen über (nicht-triviale) Handlungsspielräume im Wettbewerbsprozeß und vermögen durch unternehmensstrategisches Handeln die Marktstruktur selbst erfolgreich zu beeinflussen. Daraus folgt, daß die Unternehmung neben dem Markt ein eigenständiges Entscheidungs- und Interessenkoordinationszentrum darstellt und in ihrer verfassungsmäßigen Ausgestaltung nicht dem blanken Marktdiktat unterliegt. Die Dependenz zwischen Wirtschaftsordnung und Unternehmensverfassung hat sich so zu einer Interdependenz gewandelt. Genau an diesen Handlungsspielraum und Sachverhalt knüpft die Diskussion um die Weiterentwicklung der Unternehmensverfassung an. - 3. Vgl. auch Arbeiterselbstverwaltung.
IV. Sonderfall: Verfassung internationaler Unternehmungen (I. U.): 1. Problematik (Spannungsfeld): Für internationale Unternehmungen ist die Entfaltung von Geschäftsaktivitäten in mehreren Ländern, unter globalen Gesichtspunkten und über nationale Grenzen und alle Unternehmensteile hinweg (keine ökonomische Einheit) problematisch. Rechtlich existieren nur nationale Gesellschaften. Wegen der Vielfalt der nationalen Rechtskreise existiert eine Unternehmensverfassung typischerweise nicht. Internationale Gesellschaften bzw. Unternehmen mit Internationaler Unternehmensverfassung sind eine atypische Rarität; sie kommen durch Staatsverträge zustande und stehen auf internationaler Rechtsgrundlage. - 2. Rechtliche Voraussetzungen von I. U.: Zum Aufbau und zur Lenkung von I. Unternehmensverfassung müssen gewährleistet sein: a) Niederlassungsfreiheit und wechselseitige Anerkennung juristischer Personen (innerhalb der EG: Art. 52, 58, 220 EG-Vertrag). b) Rechtliche Möglichkeiten zentraler Leitung: (1) Leitungsbefugnis aus Eigentum, wenn die Zentrale der I. Unternehmensverfassung selbst Eigentümer eines Unternehmensteils im Ausland ist (Niederlassungen): im Rahmen des Gastlandrechts kann die Zentrale von ihrer Weisungsbefugnis Gebrauch machen. (2) Leitungsbefugnis durch direkte oder indirekte (mehrheitliche) Beteiligung (faktischer Konzern) an einer ausländischen Gesellschaft. Instrumente zur Durchsetzung der einheitlichen Leitung: Beschlüsse der Gesellschaftermehrheit in zentralen wirtschaftlichen Belangen mit Bindungswirkung für das Management; Recht zur Auswahl und Abberufung der Mitglieder der Geschäftsführung (Personalhoheit); Entsendung von Stammhausdelegierten; entsprechende Gestaltung der Unternehmensstatuten (Geschäftsordnung, Geschäftsverteilungsplan, Bestellung des Vorsitzenden der Geschäftsführung). (3) Leitungsbefugnis aus Vertrag: Unternehmensverträge (§§ 291, 292 AktG) zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften: (a) Beherrschungsvertrag: Die Konzernmutter kann dem Vorstand der Tochter direkt Weisungen erteilen, auch gegen Widerstand durchsetzen (§ 308 AktG). (b) Konsortialverträge: Vertragliche Abmachungen zwischen den Gesellschaftern eines Unternehmens, um den Einfluß auf Unternehmenspolitik, Geschäftsführung und personelle Zusammensetzung zu sichern. Vgl. auch Joint Venture. (4) Schranken der Leitungsmacht: durch nationale Rechte zum Schutz von Tochtergesellschaften, aus divergenten nationalen Rechnungslegungsvorschriften und aus der Vielfalt der nationalen Steuersysteme. - 3. Entwicklungstendenzen: Konflikte mit den Interessen der Arbeitnehmer, Gläubiger, Aktionäre, Verbraucher oder sonstigen öffentlichen Interessen in Herkunfts- und Gastländern bestimmen die Diskussion über die Unternehmensverfassung von I. Unternehmensverfassung Ansätze zur Überbrückung der Diskrepanz zwischen internationaler Wirtschaftstätigkeit von I. Unternehmensverfassung und nationaler Interessenkoordination und Konfliktregelung: (1) Internationale Unternehmensverfassung; (2) Angleichung der nationalen verfassungsrelevanten Rechtsgebiete (Europäisches Gesellschaftsrecht); (3) Vereinbarung internationaler Verhaltenskodizes für I. U.
V. Entwicklungsperspektiven: 1. Als grundsätzliche Strategiealternativen zur Weiterentwicklung der Unternehmensverfassung werden sowohl der gesetzliche als auch der vertragliche Weg verfolgt. Neben der Gesetzesstrategie, wie sie insbes. in der Bundesrep. D. mit der Mitbestimmungsgesetzgebung verfolgt wurde und in EG-Richtlinien zur Vereinheitlichung des Gesellschaftsrechts ihren Ausdruck findet, gewinnt die Vertragsstrategie, nicht nur im europäischen Ausland, zunehmend an Bedeutung. Beispiele hierfür sind die tarifvertragliche Vereinbarung von Mitbestimmungsregelungen in Schweden, Dänemark, Belgien und der Schweiz sowie entsprechende rechtspolitische Vorschläge im Entwurf der 5. EG-Richtlinie zur Struktur der Aktiengesellschaft und im DGB-Entwurf eines Mitbestimmungsgesetzes von 1982. Vertragliche Entwürfe zur Unternehmensverfassung bilden weiter die Partnerschaftsmodelle. Als weiteres für die Zukunft prägendes Entwicklungsmuster darf die "Internationalisierung" der Unternehmensverfassung durch Rechtsangleichung gelten, wie sie insbes. im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft betrieben wird (Europäische Aktiengesellschaft, Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung). - Vgl. auch internationale Unternehmensverfassung. - 2. Hinsichtlich der Interessenbezüge der Unternehmensverfassung läßt sich ein klarer Trend hin zu pluralistischen Strukturen erkennen. Zahlreiche europäische Unternehmensverfassung erfuhren eine interessendualistische Öffnung durch die Einführung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Großunternehmen, die jedoch nach Intensität, Rechtsquelle und organisatorischer Ausformung eine erhebliche Bandbreite aufweist. Außer den Interessen von Kapitaleignern und Arbeitnehmern ist in einzelnen nationalen Unternehmensverfassung (Schweden, Montan-Mitbestimmung) und Gesetzentwürfen (Europäische Aktiengesellschaft) das öffentliche Interesse als eigenständiger Einflußfaktor vertreten. Auf faktischer Ebene hat sich seit Ende der 60er Jahre auch in den USA durch die selektive Repräsentanz von ethnischen Minoritäten, Konsumenten, Frauen und vereinzelt von Arbeitnehmern als Outside-Directors im Board eine interessenpluralistische Unternehmensverfassung in Ansätzen herausgebildet. - 3. Einen zentralen Diskussionspunkt zur Organisationsverfassung bildet die Frage, ob sie wie bisher nach Rechtsformen ausdifferenziert werden soll, oder ob nicht eine einheitliche, für alle Großunternehmen rechtsformunabhängige Lösung wünschenswert ist. Die deutsche Mitbestimmungsgesetzgebung hat an der Rechtsformabhängigkeit festgehalten, obwohl Bedenken bestehen, ob so ein produktives Interessen-Clearing zustande kommt und eine effiziente Führungsorganisation für Großunternehmen zur Verfügung steht. Bei Rechnungslegung und Publizität hingegen hat der deutsche Gesetzgeber bei Umsetzung einschlägigen EG-Rechts eine rechtsformunabhängige Lösung gewählt (Bilanzrichtlinien-Gesetz). Für die klassische Frage der Organisation von Geschäftsführung und Kontrolle werden weiterhin das Board-System und das Aufsichtsratssystem als Alternative diskutiert. Für das Board-System wird eine binnenorganisatorische Aufspaltung in einen "Management-Board" und einen "Supervisory-Board" empfohlen. Die Vorschläge zum Aufsichtsratssystem hingegen favorisieren Ansätze (Pflichtkatalog zustimmungspflichtiger Geschäfte), die auf eine verstärkte interessen- und sachbezogene Interaktion zwischen Vorstand und Aufsichtsrat hinauslaufen. Schließlich gewinnen Fragen des Konzerns durch die immer weiter fortschreitende kapitalmäßige Verflechtung der Unternehmen und der zunehmenden Zahl und Bedeutung von international tätigen Firmen an Bedeutung. Der Trend - zumindest in Europa - geht dahin, nach deutschem Vorbild die nationalen Aktienrechte durch konzernrechtliche Regelungen zu erweitern, wobei zusätzlich der Schutz der abhängigen Gesellschaft deutlich verstärkt werden soll. - 4. Neben den strategischen, interessenmäßigen und organisatorischen Überlegungen zur Weiterentwicklung der Unternehmensverfassung wurde in letzter Zeit die Forderung nach einer Ergänzung der Unternehmensverfassung durch eine Unternehmensethik (Geschäftsmoral) erhoben. Der Sinn dieser Forderung ergibt sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmensführung sowie aus der Einsicht, daß nicht alle interessenrelevanten Problemfälle verfassungsmäßig vorregelbar sind und insofern Verhaltenskodizes für Manager und Unternehmen entwickelt werden müssen, die zu einer Selbstbindung des Handelns führen. Besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die Verhaltenskodizes für multinationale Unternehmen erhalten.

 

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