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Bilanztheorien
Bilanzauffassungen, von der Wissenschaft aus den verschiedenen Anschauungen über das Wesen und die Aufgaben der Bilanz und der Erfolgsrechnung entwickelte Lehrmeinungen. (Vgl. auch Bilanzlehre.)
I. Statische B.: 1. Die statische Bilanz gilt als Mittel zur Darstellung des Vermögensstandes (Vermögensstatus) in einem gegebenen Zeitpunkt. Sie bezieht sich auf zweierlei: a) Auf die Konstitution der Unternehmung, also die grundsätzliche Kapital- und Vermögensbeschaffenheit. Die Vermögenswerte sollen das in ihnen investierte Kapital darstellen, werden also zum Anschaffungswert angesetzt. Keine Abschreibung, sondern passivische Wertberichtigung; keine stillen Rücklagen. - b) Nach neuerer Auffassung auch auf die Situation der Unternehmung; das Ergebnis der wirtschaftlichen Tätigkeit einer abgelaufenen Geschäftsperiode wird nachgewiesen durch die Buchführung, deren Aufgabe es ist, die Bilanzposten während der Rechnungsperiode zu kontrollieren. Die Zunahme des Eigenkapitals (ohne Einlagen und Entnahmen) im Vergleich zur Vorjahresbilanz entspricht dem Gewinn des Betriebsabschnittes (Vermögenszuwachs); Vermögensabnahme entsprechend dem Verlust. - 2. Hauptvertreter einer beschränkten statischen B.: Nicklisch, Schär. Sie deuten die Bilanz als "Kapitalbestandsbilanz", die Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) als "Bilanz der Periodenwerte"; die Positionen der GuV weisen also Bestandsmehrungen und -minderungen aus.
II. Dynamische B.: 1. Begründet und entwickelt durch Schmalenbach (Dynamische Bilanz, 1919, 13. Aufl., Köln und Opladen 1962). Da der Wert der Unternehmungen von ihrer Ertragskraft bestimmt wird, gilt es, den während der Lebensdauer des Unternehmens erzielten Totalerfolg (= Gesamteinnahmen - Gesamtausgaben - Kapitaleinlagen + Kapitalentnahmen) zu ermitteln, wobei die jährliche Bilanz nur den Periodenerfolg darstellt für noch nicht abgeschlossene Erfolgsvorgänge (Ausgaben, Einnahmen, Aufwendungen, Leistungen). Die Bilanz enthält demnach nur transitorische oder antizipative Posten. Schema: Jedes Aktivum wird danach erklärt als künftige Einnahme oder künftiger Aufwand (Vorleistungen) und jedes Passivum als künftige Ausgabe oder als künftige Leistung (Nachleistungen); Vermögens- und Schuldbestände gibt es in der dynamischen Bilanzinterpretation nicht, sondern nur schwebende Posten, die erst in späteren Perioden in den Erfolgsbildungsprozeß eingehen. - Die Bilanz dient der Ermittlung des wirtschaftlichen Erfolgs einer Periode, des Jahresgewinns, der sich aus der Differenz von Ertrag und Aufwand ergibt. Diese sind beide von der Bewertung der Bilanzaktiven und -passiven am Stichtag abhängig: grundsätzlich zu Anschaffungswerten. - 2. Weiterentwicklung der dynamischen Bilanz durch Walb (Finanzwirtschaftliche Bilanz, 1943, 3. Aufl., Wiesbaden 1966): Unterscheidung von Konten der Zahlungsreihe (Buchung aller baren und unbaren Zahlungen) und Konten der Leistungsreihe (Buchung aller Sachgüter, Arbeits- und Dienstleistungen). Abschluß der Zahlungsreihe: Die Bilanz, die auf der Aktivseite die Summe aller Einnahmen und auf der Passivseite die Summe aller Ausgaben enthält. Abschluß der Leistungsreihe: Gewinn- und Verlustrechnung, die auf der Sollseite alle Leistungseingänge (Aufwand) und auf der Habenseite alle Leistungsausgänge (Erträge) enthält. Beide Abschlüsse ergeben erst durch Rückverrechnung in Höhe des periodengerechten Aufwands bzw. Ertrags den Periodengewinn.
III. Organische B.: 1. Entwickelt von Schmidt, F. (Organische Tageswertbilanz, 1929, unveränderter Nachdruck 1951). Im Gegensatz zur statischen Bilanztheorien wird das Vermögen nicht zum Nominalwert, sondern zu dem des jeweiligen Stichtags, also zum Wiederbeschaffungswert, angesetzt. Auch die Abschreibungen erfolgen auf Basis des Tageswerts. Bei höherem Wiederbeschaffungswert sind die aufgrund des Anschaffungspreises vorgenommenen Abschreibungen nach dieser Bilanztheorien zu niedrig, um den Ersatz der abgeschriebenen Gegenstände bei Außerdienststellung zu gestatten und umgekehrt. Markt- und Geldwertschwankungen werden getrennt durch Ausweis a) des Umsatzerfolgs, b) des Erfolgs durch Wertänderungen am ruhenden Vermögen. Damit ist vermieden, daß bei Erhöhung der Wiederbeschaffungspreise nicht realisierbare Gewinne ausgeschüttet würden.
IV. Eudynamische B.: Entwickelt von Sommerfeld. Gerichtet auf Erhaltung der im Betrieb investierten Betriebsenergie, d. h. nicht nur Erhaltung des Nominalkapitals und der güterlichen Substanz, sondern auch der Leistungsfähigkeit im Rahmen der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Risiken sind in vollem Umfang zu berücksichtigen, Gewinne erst nach Eingang der Zahlung zu buchen, Halbfabrikate lediglich in Höhe der Materialkosten zu bewerten. Kaufkraftänderungen des Geldes werden durch Rücklagenkonten (Substanzerhaltungskonto) berücksichtigt, um unrealisierbare Gewinne außer Ansatz zu lassen und Substanz für erforderliche Betriebserweiterungen anzusammeln.
V. Nominale B.: Vertreten durch W. Rieger (Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 1929). Die Bilanz gilt als reine Geldrechnung, d. h. als Zwischenabrechnung über ein noch nicht abgeschlossenes Betriebsleben. Als Gewinn gilt (wie im Handels- und Steuerrecht) die nominelle Eigenkapitalvermehrung. Eine richtige Ergebnisermittlung ist unmöglich, weil sie die Kenntnis aller künftigen Einnahmen und Ausgaben voraussetzt. - Später wurde der Versuch gemacht, das Prinzip der nominellen Kapitalerhaltung und der güterbezogenen Substanzerhaltung miteinander zu verknüpfen (K. Hax, Substanzerhaltung der Betriebe, 1957).
VI. Totale B.: Auch dualistische oder "natürliche Theorie der Bilanz"; aufgestellt von Le Coutre. Von der Weiterführung der Gedanken der statischen Bilanztheorien ausgehend stellt die totale Bilanztheorien ein in sich geschlossenes System dar. Sie verlangt Aufstellung und Erklärung der Bilanz derart, daß ihrem natürlichen Inhalt und ihren praktischen Zwecksetzungen im Betrieb in jeder Beziehung Rechnung getragen wird. Danach hat die Bilanz als Mittel der Betriebserkenntnis, -führung und -kontrolle vier Aufgaben: Wirtschaftsübersicht, Ergebnisfeststellung, Wirtschaftsüberwachung und Rechenschaftslegung. - Zu den Bilanzen im Sinne der totalen Bilanztheorien zählen: Bestände-, Umsatz-, Leistungs- (Aufwands- und Ertragsrechnung) und Erfolgsbilanzen. Ferner fordert sie u. a.: Bruttoprinzip für alle Bilanzposten; volle Anschaffungswerte; Bewertungen über Wertberichtigungen (indirekte Abschreibung); keine stillen Rücklagen; sachgemäße, klare und wahre Gliederung des Bilanzinhalts nach wirtschaftlicher Zweckbestimmung.
VII. Pagatorische Buchhaltungs- und B.: Entwickelt von E. Kosiol (Bilanzreform und Einheitsbilanz, 2. Aufl. 1949). Eine von den Zahlungsvorgängen ausgehende systematisch geschlossene Erklärung der Finanzbuchhaltung und der sie abschließenden Bilanz, die eine einheitliche Bewertungstheorie und eine Theorie der Rücklagen umschließt. - Vgl. auch pagatorisch.
VIII. Zukunftsorientierte B.: Zunächst entwickelt von K. Käfer (Die Bilanz als Zukunftsrechnung, 1962). Er geht von der Bilanzauffassung Riegers aus (vgl. V.) und sucht das spätere geldliche Ende der Güter und Leistungen auf den Bilanzstichtag zu antizipieren. Die Zukunftsbilanz will die zukünftigen Entwicklungen im betrieblichen Güter- und Geldbereich darlegen und damit der Unternehmungsentscheidung dienen. Das Vermögen ist die Summe der Erwartungen zukünftigen Güter- und Leistungszugangs. Das Kapital stellt die Gesamtheit der Erwartungen zukünftigen Güter- und Leistungsabganges dar. Die Zukunftsbilanz ist jedoch keine Planbilanz i. e. S., da sie die einzelnen Posten auf den Bilanzstichtag antizipiert, während die Planbilanz die Bilanz eines späteren Zeitpunktes darstellt. - Auch H. Münstermann (Unternehmungsrechnung, Wiesbaden 1969) hat eine zukunftsorientierte Bilanztheorien entwickelt; er geht aber von der dynamischen Bilanz Schmalenbachs aus, die er weiter ausbaut. Er fordert v. a. eine Neuorientierung des bilanziellen Gewinnbegriffs, der von den erwarteten künftigen Leistungseingängen und Leistungsausgängen abzuleiten ist. Dieser ist das Korrelat zum Begriff des "Erfolgskapitals", des Kapitalwertes der künftigen Einnahmeüberschüsse. Als "ökonomischer Gewinn" gilt der Betrag, über den der Betriebseigner beliebig verfügen kann, ohne daß das Erfolgskapital der Unternehmung gemindert wird. D. Schneider (ZfbF 1968, S. 1 ff.) hat vorgeschlagen, bei der Bemessung der Gewinnausschüttung den bilanziellen und den ökonomischen Gewinn miteinander zu verbinden: Als ausschüttungsfähig gilt der jeweils niedrigere. - Schließlich hat auch Wolfram Engels eine zukunftsorientierte Bilanztheorien aufgestellt (Betriebswirtschaftliche Bewertungslehre im Lichte der Entscheidungstheorie, Köln-Opladen 1962). Im Gegensatz zu Münstermann sieht er aber nicht die Gewinnermittlung als das Hauptziel der Bilanzrechnung an, sie sei nur Mittel zum Zweck der Bilanz. Nur wenn eine Zielfunktion höherer Ordnung festgelegt sei, könne man zu Aussagen über die "Richtigkeit" verschiedener Bilanzarten gelangen. Diese Zielfunktion sei die "lerntheoretische Prognose", die auch die übrigen Bilanzzwecke erfülle. Aus vergangenen Abläufen wird über den Vorgang des "Lernens" auf die Zukunft geschlossen. Die Transformation finanzwirtschaftlicher Überschüsse und Defizite in eine prognosegerechte Form ergibt Gewinne und Verluste, die Transformation der Finanzergebnisrechnung (als Ausgaben- und Einnahmerechnung) ergibt die Bilanz.
IX. Synthetische B.: Entwickelt von H. Albach (ZfB 1965, S. 21 ff.). Er sieht in der Bilanz nur noch ein Kontrollkalkül. Zunächst hat die Unternehmung vor Beginn der Bilanzierungsperiode einen Optimalplan zu erstellen, eine Art Planbilanz. Die Schlußbilanz ist dann eine periodische Kontrollrechnung, die über die in der Periode realisierten Teile des erwarteten Gesamtgewinnes abrechnet. Verläuft die Entwicklung planmäßig, so ist der ausgewiesene Gewinn realisiert. Er entspricht der Verzinsung des zu Beginn der Periode gebundenen Kapitals mit dem internen Zinsfuß. Eine Bilanz, die der Bedingung genügt, daß die Summe der Einzelwerte gleich dem Gesamtwert des Unternehmens lt. Optimalplan ist, ist die "synthetische Bilanz".
X. Funktionsanalytische B.: Entwickelt von W. Stützel (ZfB 1967, S. 314 ff.). In seiner "Meß-Theorie" zeigt Stützel die Problematik der Bilanzbewertung bei den Beträgen, die keine pfenniggenauen Währungsbeträge sind, sondern deren Wert geschätzt werden muß. Die Bewertung dieser Beträge hängt sehr stark davon ab, welche Funktionen von dem Personenkreis, in dessen Interesse Bilanzen erstellt werden, der Bilanz zugewiesen werden. Die funktionsanalytische Bilanztheorien analysiert nun die verschiedenen Finanzfunktionen aus der Perspektive der Interessengruppen.
XI. Ergänzte Mehrzweck-B.: Entwickelt von E. Heinen (Handelsbilanzen, 12. Aufl. 1986). Auch er geht davon aus, daß die Bilanz gegenüber anderen Rechnungskalkülen eine Vielzahl möglicher Rechnungszwecke hat. Heinen hat zunächst die möglichen Bilanzzwecke zusammengestellt und dann die "ergänzte Mehrzweck-B." entwickelt. Sie versucht, ein Grundmodell der Bilanz als Entscheidungsmodell zu entwickeln, das zugleich mehreren Zwecken mit bestimmtem Anspruchsniveau dient. Der sukzessive Prozeß der Bilanzgestaltung beginnt mit einer hypothetischen Basisbilanz als Ausgangspunkt. Erfüllt sie den begrenzt formulierten Zweck nicht, wird in einer ergänzten Mehrzweckbilanz ein Rechnungskalkül entwickelt, der in der "Nähe" der Basisbilanz liegt. Die ergänzte Mehrzweckbilanz zeigt einen methodischen Weg bilanztheoretischer Forschung, der auch Anregungen und Forderungen einer praxisnahen Bilanzdiskussion berücksichtigt. Die erste Hypothese einer Basisbilanz gibt der handelsrechtliche Jahresabschluß, der eine Mehrzweckbilanz darstellt, da er grundsätzlich sowohl Bilanzzwecke aus der Sicht des Unternehmers als auch solche des Gesetzgebers berücksichtigt. Doch bleiben dem bilanzierenden Unternehmer noch Freiheitsgrade autonomer Bilanzgestaltung, so daß er die ergänzte Mehrzweckbilanz als "Bewegungsbilanz" entwickeln kann, die ein Rechnungskalkül ist, der exakte Kontrollsignale abgibt und so die Unternehmungsleitung zu gezielten Anpassungsentscheidungen anregt - gleichsam als Rückkopplung im kybernetischen System.
XII. Nicht mehr zu den Bilanztheorien im engeren Sinne gehören Vorschläge, die aus Ablehnung herkömmlicher Bilanzen (insbes. für externe Adressaten) für finanzwirtschaftliche Zahlungsstromrechnungen plädieren. Hierher gehören das von A. Moxter (ZfbF 1966, S. 28 ff.) vorgestellte finanzplanorientierte Tableau, in dem die Ein- und Auszahlungen nach Empfängern oder Leistenden und nach Verwendungszwecken aufgeteilt sind, sowie die Kapitalflußrechnung (W. Busse von Colbe, ZfB 1966, 1. Ergänzungsheft, S. 82 ff.) als Bilanzersatz.
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