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Bilanzlehre
I. Aufgabe: Die Bilanzlehre ist ein wichtiger Teilbereich der Betriebswirtschaftslehre. Grundproblem der Bilanzlehre ist die zentrale Erfassung der finanziellen Konsequenzen des Unternehmensgeschehens. Ein Bedürfnis nach solchen "Bilanzen" ist nicht zweifelhaft: Entscheidungen in Unternehmen müssen auch orientiert sein an ihren finanziellen Konsequenzen. Wer solche Entscheidungen optimal treffen will, bedarf deshalb eines Instrumentes, um diese Konsequenzen erkennen zu können. Die Bedeutung von Bilanzen spiegelt sich besonders deutlich wider in dem in allen Kulturländern gegebenen gesetzlichen Bilanzierungszwang: Bilanzen sind unentbehrlich zum Schutz derjenigen, die von den finanziellen Konsequenzen betrieblicher Entscheidungen betroffen werden (z. Bilanzlehre die Gläubiger).
II. Statische Bilanzinterpretation: 1. Bilanzauffassung des Reichsoberhandelsgerichtes: Eine Bilanztheorie im Sinn eines geschlossenen Systems von Bilanzaufgaben und aufgabenadäquaten Bilanzinhalten (Bilanzierungsregeln) gibt es seit etwa hundert Jahren. 1873 erschien die berühmt gewordene Entscheidung des Reichsoberhandelsgerichts, in der für die Bilanz "objektive Verkehrswerte" gefordert wurden. Die Bilanz war nach dieser Auffassung eine Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden zum Zweck der Schuldendeckungskontrolle. - 2. Bilanzauffassung von Herman Veit Simon: Auch Simon interpretiert, wie alle Statiker, die Bilanz als Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden; auch bei ihm ist Sinn der Bilanzziehung die Schuldendeckungskontrolle. Doch betont Simon die Voraussetzung des fortbestehenden Unternehmens. Die wichtigste Konsequenz hieraus war die teilweise Verdrängung des Einzelveräußerungspreises als Bilanzwert: Nach Simon ist nur noch das "Veräußerungsvermögen" (Umlaufvermögen) zum Einzelveräußerungspreis anzusetzen; "Gebrauchsvermögen" (Anlagevermögen) dagegen müsse zu Anschaffungspreisen (abzüglich Abschreibungen) bewertet werden. Denn die Bedeutung eines Gegenstands (sein "Wert") für den Kaufmann könne nur dann durch den Veräußerungspreis gemessen werden, wenn der Gegenstand auch zur Veräußerung bestimmt sei. Der "Wert" des Anlagevermögens spiegelt sich wider in den vom Kaufmann hierfür aufgewendeten Beträgen (Anschaffungskosten, ggf. abzüglich Abschreibungen).
III. Dynamische Bilanzinterpretation: 1. Kritik am Vermögensbegriff: Schmalenbach wandte sich gegen Simons Lehre mit dem Argument, es werde eine unzutreffende Vermögenskonzeption gebraucht. Wolle man das Vermögen ermitteln, so müsse man die erwarteten Überschüsse diskontieren: Das Vermögen sei nur durch "Gesamtbewertung" zu bestimmen; Gesamtbewertung heiße, daß die verschiedenen "Vermögensteile" insgesamt ("simultan") bewertet werden (indem man die Überschüsse diskontiert, die sich aus der kombinierten Verwendung aller Vermögensteile ergeben). Bilanzielle Vermögensermittlung bedeute dagegen "Einzelbewertung": Hier werde der Wert der einzelnen Vermögensteile isoliert bestimmt; infolgedessen blieben unberücksichtigt die "Kombinationseffekte", d. h. die Wirkungen aus dem kombinativen Einsatz der verschiedenen Vermögensteile. - 2. Schmalenbachs Theorie vom "vergleichbaren Erfolg": Schmalenbach erklärte, es komme darauf an, den Gewinn statt des Vermögens zu ermitteln. Denn entscheidend für den Kaufmann sei, einen Indikator zu haben, der ihm Erfolg oder Mißerfolg seiner Tätigkeit anzeige. Schmalenbach sah jedoch die Schwierigkeiten einer zutreffenden Gewinnermittlung in einer Welt der Unsicherheit und des Irrtums. Deshalb meinte er, es komme gar nicht so sehr darauf an, den "absolut richtigen" Erfolg zu bestimmen. Es genüge, den Erfolg "relativ richtig" zu ermitteln. "Relativ richtig" sei der Erfolg, wenn er als "vergleichbar" gelten könne: Es spiele keine Rolle, wenn sich bestimmte Fehler in der Gewinnermittlung von Jahr zu Jahr in der gleichen Weise wiederholten, sofern hierdurch die "Veränderungsrichtung" unberührt bliebe. Der Gewinn müsse so ermittelt werden, daß ein "Auf" oder "Ab" des Betriebes rechtzeitig und zuverlässig erkennbar werde. Bei jedem Aufwandsansatz habe man daher zu fragen, was der im Hinblick auf die so verstandene "Vergleichbarkeit" zutreffende Periodenaufwand sei.
IV. Moderne B.: Die moderne Bilanzlehre versucht, der Komplexität finanzieller Informationsbedürfnisse Rechnung zu tragen. Sie interpretiert "Bilanzen" in einem etwas weiteren Sinn, nämlich als "zentrale finanzielle Lageberichte" von Unternehmen. Auf diese Weise integriert sie die älteren Bilanzauffassungen; sie zeigt, daß diese älteren Ansätze wesentliche Teilinformationen über die finanzielle Situation geben. Die moderne Bilanztheorie bringt allerdings mehr als nur eine Kombination älterer Auffassungen. Sie ist nicht zufällig ein Kind der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. Erst die moderne Bilanztheorie kennt die systematische Analyse der entscheidungsrelevanten Informationsbedürfnisse; sie ist frei von überkommenen Aufgabenaxiomatisierungen. Auf dieser Basis entwickelt sie differenziertere, aufgabenadäquate Informationsinstrumente. Sie berücksichtigt insbes. die Zukunftsorientierung der betrieblichen Entscheidungen; unter diesem Aspekt integriert sie auch die betriebliche Finanzplanung. - Ausführliche Darstellung der Bilanzauffassungen: Vgl. Bilanztheorien.
Literatur: Baetge, J., Bilanzen, 3. Aufl., Düsseldorf 1994; Coenenberg, A. G. u. a., Jahresabschluß und Jahresabschlußanalyse, 15. Aufl., Landsberg am Lech 1994; Heinen, E., Handelsbilanzen, 12. Aufl., Wiesbaden 1986; Moxter, A., Bilanzlehre, 3. Aufl., Wiesbaden 1984/86; Schmalenbach, E., Dynamische Bilanz, 13. Aufl., Köln und Opladen 1962; Schmidt, F., Die organische Tageswertbilanz, Wiesbaden 1951 (unveränd. Nachdruck d. 3. Aufl.); Simon, H. V., Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien, 3. Aufl., Berlin 1899; Wöhe, G., Bilanzierung und Bilanzpolitik, 8. Aufl., München 1992.
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