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außermarktliche Ökonomie
I. Begriffe und Grundlagen: Ausgehend von der traditionellen Volkswirtschaftslehre hat sich in den letzten Jahren eine neue Betrachtungsweise in der Sozialwissenschaft entwickelt, die als "ökonomische Sicht des menschlichen Verhaltens" oder als a. Ö. bezeichnet wird. Unter dem Begriff der a. Ö. versteht man die Anwendung des ökonomischen Verhaltensmodells auf Fragestellungen, die üblicherweise anderen Verhaltenswissenschaften vorbehalten waren. So beschäftigt sich die a. Ö. z. B. mit der ökonomischen Analyse der Politik, der Umwelt, der Kunst oder des Rechts. - Neben dem Begriff a. Ö. haben sich verschiedene weitere Bezeichnungen eingebürgert. Je nach Betrachtungsschwerpunkt findet man auch neue Namen: Neue Politische Ökonomie, Rational-Choice-Ansatz oder ganz allgemein ökonomischer Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Der Ansatz der a. Ö. ist gekennzeichnet durch die enge Verknüpfung von menschlichem Verhalten und Institutionen. Im Zentrum steht das Individuum: Sein Handeln wird durch seine Wünsche (Präferenzen) und die ihm gesetzten Einschränkungen bestimmt. Diese Restriktionen, die den individuellen Möglichkeitsraum abgrenzen, werden maßgeblich durch die institutionellen Bedingungen bestimmt. Im Vordergrund steht somit der Einfluß unterschiedlicher Institutionen auf das menschliche Verhalten (Vergleichende Analyse von Institutionen). Grundsätzlich wird dabei von tatsächlich bestehenden Institutionen und nicht von Idealvorstellungen ausgegangen. Ein Vergleich mit perfekt funktionierenden Institutionen - wie etwa dem Idealstaat, der durch uneigennützige Politiker und Administrationen im allgemeinen Interesse der Bürger gelenkt wird - entspricht einem Nirwana-Ansatz (Staatsversagen): Es wird vorausgesetzt, was gerade zu gestalten ist. - Umgekehrt sind die Institutionen den Menschen nicht (oder höchstens kurzfristig) vorgegeben; vielmehr sind sie ihrerseits ein Ergebnis menschlichen Handelns. In der ökonomischen Betrachtung wird zu erklären versucht, auf welche Weise Institutionen entstehen und überleben. In einem gegebenen Zeitpunkt erklärt sich das Verhalten der Menschen aus dem Zusammenspiel mit den bestehenden Institutionen, letztlich wird aber, da auch die Institutionen nicht unveränderlich sind, alles auf das einzelne Individuum zurückgeführt. Aus diesem Grunde ist die zugrundegelegte Vorstellung, wie der Mensch handelt, zentral.
II. Das ökonomische Verhaltensmodell: 1. Grundlegende Elemente: Das Verhaltensmodell, das der a. Ö. zugrunde liegt, läßt sich mit Hilfe von fünf Elementen beschreiben. - a) Methodischer Individualismus: Das auf der Ebene der Gesellschaft beobachtete Geschehen wird auf das Handeln von Personen zurückgeführt (methodologischer Individualismus). Das bedeutet keineswegs, daß der Mensch als isoliertes Wesen behandelt wird; vielmehr ist sein Verhalten nur im Zusammenspiel mit seiner Umgebung - anderen Menschen und Institutionen - verständlich. Dieser Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von Theorien, bei denen Kollektive selbständig handeln, wie z. B. in der organischen Staatsauffassung. Aber auch unterhalb der Ebene der Einzelperson wird nicht weiter unterschieden. Damit unterscheidet sich der ökonomische Ansatz von manchen Richtungen der Psychologie, in denen gespaltenen Persönlichkeiten unterstellt werden, und auch von der Soziobiologie, die eine Ebene der Gene unterhalb der Einzelperson berücksichtigt. Auf der Ebene des Einzelnen anzusetzen bedeutet auch, daß dessen individuelle Bewertungen oder normative Auffassungen als maßgebend akzeptiert werden. Aussagen wie "etwas ist gesellschaftlich erwünscht" haben infolgedessen auch keine weitergehende Bedeutung, weil "die Gesellschaft" keine Handlungseinheit darstellt, die eine Bewertung abgeben könnte. Vielmehr ist darauf abzustellen, wie die Menschen in der Gesellschaft unterschiedliche Möglichkeiten bewerten. - b) Systematische Reaktion auf Anreize: Individuen handeln nicht zufällig, sondern reagieren in systematischer und damit vorhersehbarer Weise, wenn ihnen eine Wandlungsmöglichkeit vorteilhafter oder ungünstiger erscheint als eine andere. Der Mensch verfügt über eigene Kräfte; er sucht und findet Lösungen, er lernt und erfindet (er ist aber nicht vollständig informiert); er bildet Erwartungen über die Gegenwart hinaus und ist fähig, zukunftsbezogen zu handeln; er wägt zwischen den Vor- und Nachteilen der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten (implizit und zuweilen auch explizit) ab. Das ökonomische Verhaltensmodell rückt damit wesentlich von der (zuweilen noch in Lehrbüchern anzutreffenden) Vorstellung ab, daß der Mensch ein völlig informiertes Wesen sei, das wie ein Automat handelt. Der homo oeconomicus ist vielmehr durch ein beschränktes Wissen gekennzeichnet, das er aber - wenn es ihm vorteilhaft erscheint - durch Suchen und Lernen erweitert. - c) Trennung zwischen Präferenzen und Einschränkungen: Im ökonomischen Ansatz wird strikt zwischen Präferenzen und Einschränkungen getrennt. Veränderungen im menschlichen Verhalten werden (so weit wie möglich) auf beobachtbare und meßbare Veränderungen des durch die Einschränkungen bestimmten Möglichkeitsraumes zurückgeführt und nicht auf (nicht-beobachtbare und meßbare) Präferenzänderungen. Dieses Vorgehen ermöglicht es, theoretische Hypothesen zu entwickeln und sie auch empirisch zu testen. Beispiel: Angenommen, es würde beobachtet, daß vermehrt kleinere Autos als früher erworben werden. Diese Verhaltensänderung ließe sich dadurch erklären, daß die Käufer ihre Werte geändert haben und nun kleine Autos höher schätzen (z. B. im Sinne einer "postindustriellen Wende"). Eine derartige Erklärung hat aber den Nachteil, daß sie sich nur schwer oder gar nicht empirisch überprüfen läßt. Notwendig wäre dazu eine von dieser Beobachtung unabhängige Erfassung des Wertewandels. Läßt sich der "Wertewandel" nicht unabhängig erfassen, stellt diese Erklärung nur eine Umschreibung der Verhältnisänderung unter Verwendung anderer Worte dar: Eine Präferenzänderung muß stattgefunden haben, weil sich das Verhalten geändert hat. (Hätte sich das Verhalten nicht geändert, hätte auch keine Präferenzänderung stattgefunden.) Eine empirische Überprüfung einer derartigen Umschreibung ist nicht möglich, da sie immer wahr sein muß. Entsprechend werden auch keine neuen empirischen Kenntnisse gewonnen. - Beim ökonomischen Verhaltensmodell wird anders vorgegangen. Zuerst wird danach gefragt, ob sich der Möglichkeitsraum verändert hat. Die einer Person für ihre Handlungen offenstehenden Möglichkeiten werden auf beobachtbare Änderungen von Einschränkungen zurückgeführt. Im Vordergrund stehen Änderungen in den relativen Preisen oder den Kosten von Gütern und Handlungen, die die beobachtbare Verhaltensänderung bewirkt haben können. Als Möglichkeiten zur Erklärung des vermehrten Kaufs kleiner Autos bieten sich z. B. an: eine Erhöhung der Benzinpreise (kleinere Autos brauchen weniger Benzin); eine im Vergleich zu großen Autos günstiger werdende Besteuerung oder Versicherungsprämie von Kleinwagen; staatliche Vorschriften zu Ungunsten großer Autos (wie Geschwindigkeitsbeschränkungen) oder eine Änderung anderer Umweltbedingungen (wie etwa die Verminderung der Parkflächen auf öffentlichem Gebiet). - Im Unterschied zu Präferenzänderungen (Wertewandel) sind die im ökonomischen Ansatz verwendeten Erklärungen für die Veränderungen des Möglichkeitsraumes und damit des Verhaltens empirisch erfaßbar. So läßt sich z. B. eine Erhöhung des Benzinpreises leicht ermitteln. Wie aus dem Beispiel ersichtlich ist, wird der Begriff "Preis" extensiv ausgelegt. Es handelt sich nicht nur um monetäre Güterpreise (wie der Benzinpreis) oder monetäre Belastungen (wie Steuern oder Versicherungsprämien), sondern um alle Kosten, die bei einer Handlung auftreten (weniger und kleinere Parkflächen führen z. B. zu größerem Zeitverlust und Ärger beim Abstellen der Autos). - d) Eigennutzorientierung: Es wird unterstellt, daß Individuen im großen und ganzen auf ihre eigenen Vorteile bedacht sind, sie verhalten sich eigennützig. Eine derartige Annahme über das Verhalten scheint auf den ersten Blick eine negative Einschätzung des Menschen darzustellen. Diese Bewertung ist jedoch nicht richtig. Eigennütziges Handeln bedeutet, daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß jedes Individuum dauernd Gutes für seine Mitmenschen tut - das wäre sicherlich unrealistisch - es bedeutet aber auch nicht, daß jeder Mensch nur danach trachtet, den anderen Böses zuzufügen. Eigennütziges Handeln nimmt eine Mittelstellung ein: Die Menschen sind - mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen - weder Heilige noch Verbrecher. - Das menschliche Verhalten ist somit weder durch ausgeprägten Altruismus noch durch Haß oder Neid geprägt, sie verhalten sich in dieser Hinsicht neutral. Eigennütziges Verhalten zu unterstellen ist verläßlich; daß die Menschen ihren eigenen Vorteil wahrnehmen, ist in aller Regel zu erwarten. - Eigennutz kann unter wechselnden Umweltbedingungen eine unterschiedliche Form annehmen. Im Kreise der Familie oder von Freunden bedeutet Eigennutz auch, daß man sich - aus eigenem Vorteil - um das Wohlergehen der anderen Mitglieder kümmert. Auf den Nutzen anderer Personen achtet man auch bei regelmäßig wiederkehrenden Beziehungen, etwa zwischen Stammkunden und Verkäufern: Wer hier vordergründig aus purem Eigennutz handelt, verliert zu seinem eigenen Schaden an Reputation. In einer anonymen Umgebung führt Eigennutz hingegen dazu, daß nur auf das eigene Wohlergehen geachtet wird. - e) Möglichkeitsraum und Institutionen: Die wichtigsten verhaltensrelevanten Restriktionen sind: (1) das verfügbare Einkommen, eingeschlossen das Vermögen und die Kreditmöglichkeiten; (2) die (relativen) Güterpreise; (3) die zum Konsum und Handeln benötigte Zeit. Die beiden ersten Einschränkungen geben das einer Person zur Verfügung stehende Realeinkommen an. (In einfachen graphischen Darstellungen wird dieses vorgegebene Realeinkommen durch die Bilanzgerade wiedergegeben.) Das von einer Person verdiente reale Einkommen läßt sich erhöhen, indem auf Freizeit verzichtet und dafür mehr gearbeitet wird. Da aber die einer Person verfügbare Zeit beschränkt ist (auf 24 Stunden pro Tag, wovon die für Schlaf, Essen und Erholung notwendige Zeit abgeht), kann jemand mit seinen Fähigkeiten nur ein bestimmtes Maximaleinkommen erreichen, selbst wenn er oder sie sich ausschließlich darauf konzentriert. Die Möglichkeiten einer Person werden somit durch eine Gesamteinkommensrestriktion (full income constraint) bestimmt. Zu den monetären und zeitlichen Einschränkungen können verschiedene institutionelle Einschränkungen hinzukommen. In diesem Zusammenhang werden Institutionen umfassend als Vereinbarungen verstanden, die wiederholte Beziehungen zwischen Menschen formen. Drei Arten von Institutionen lassen sich unterscheiden: (1) Entscheidungssysteme: Institutionen sind Regeln oder Verfahren, mit deren Hilfe in der Gesellschaft Entscheidungen getroffen werden. Die wichtigsten Systeme zur Entscheidungsfindung sind: das Preissystem bzw. der Markt, die Demokratie, die Hierarchie oder andere autoritäre Verfahren, und das Verhandlungssystem. Jedes dieser Verfahren wirkt in einer ganz bestimmten Weise auf Entscheidungen ein und beeinflußt damit das menschliche Verhalten systematisch und vorhersehbar. Wer z. B. im Rahmen des Preissystems handelt, muß sich mit ganz bestimmten Einschränkungen (wie dem verfügbaren Einkommen oder den monetären Güterpreisen) auseinandersetzen. Wer sich hingegen im demokratischen Raum bewegt, muß vor allem die politischen Einschränkungen (z. B. Wahlen) beachten. (2) Normen, Traditionen und andere Verhaltensregeln: Das menschliche Handeln wird durch eine Vielzahl von mehr oder weniger einengenden Vorschriften bestimmt, die sich als Institutionen auffassen lassen. Manche dieser Normen sind explizit durch den Staat oder andere Organisationen vorgegeben (z. B. Gesetze und Verordnungen). Ein großer Teil der Verhaltensnormen ist zwar nicht schriftlich festgelegt, aber dennoch für die Individuen maßgebend. Dazu gehören insbes. traditionell oder religiös bestimmte Regeln und Gesetze oder der innerhalb einer Familie oder im Freundeskreis vorgeschriebene Umgang untereinander. (3) Organisationen: Institutionen dieser dritten Bedeutung sind etwa der Staat, Verbände, Firmen und Bürokratien, aber auch rein private Clubs oder Familien und informelle Vereinigungen. Die drei Arten von Institutionen stehen in einem engen Zusammenhang untereinander; sie können als Einheit angesehen werden, wobei unterschiedliche Aspekte betont werden. Wesentlich ist ihr Einfluß auf den Handlungsraum, der dem Einzelnen zur Verfügung steht und der sich je nach institutionellen Bedingungen ändert. - 2. Das verallgemeinerte Nachfragegesetz: Aus den fünf grundlegenden Elementen des ökonomischen Verhaltensmodells läßt sich ein zentrales Gesetz - das verallgemeinerte Nachfragegesetz - ableiten, mit dessen Hilfe sich bei geeigneter Anwendung das Handeln der Menschen theoretisch und empirisch erklären läßt, und zwar sowohl im wirtschaftlichen als auch im nichtwirtschaftlichen Bereich. - Das Nachfragegesetz besagt: Erhöht sich der Preis (die Kosten) eines Gutes oder einer Aktivität im Vergleich zu anderen Gütern und Aktivitäten (d. h. erhöht sich der relative Preis), wird von dem betreffenden Gut weniger nachgefragt (konsumiert) oder die betreffende Aktivität vermindert. - Dieses zentrale Gesetz menschlichen Handelns beruht auf einer marginalen Substitution. Eine relative Preisänderung bewirkt keine totale oder abrupte Änderung im Verhalten, sondern eine mehr oder weniger starke Anpassung an sich verändernde Knappheiten. Das Gesetz gilt nur, soweit die übrigen Einflüsse konstant gelassen werden (ceteris paribus Annahme). Der Einfluß anderer Größen auf die Nachfrage muß getrennt vom Einfluß von Preisänderungen berücksichtigt werden. - Eine wichtige Eigenschaft des Nachfragegesetzes ist, daß die Richtung der erwartenden Verhaltensänderung eindeutig bestimmt ist: Die relativ teurer werdende Aktivität wird weniger ausgeführt, das teurer werdende Gut weniger gekauft und umgekehrt. Diese Eigenschaft ist bei anderen Einflüssen auf das Verhalten in der Regel nicht gegeben. Insbes. gibt es keine allgemeinen theoretischen Hypothesen darüber, ob ein höheres Einkommen die Nachfrage erhöht oder senkt. Die Nachfrage nach größeren Autos mag mit steigenden Einkommen zunehmen, die Nachfrage nach einfachen Nahrungsmitteln mag abnehmen. Theoretisch ist die Einflußrichtung eines höheren Einkommens unbestimmt; sie läßt sich nur durch empirische Beobachtung feststellen. - 3. Rationalität und Nutzenmaximierung: Zum Verständnis des Verhaltensmodells, wie es in der Ökonomie und der a. Ö. angewandt wird, ist es nützlich, den Zusammenhang zwischen Rationalität und Nutzenmaximierung näher zu betrachten. Rationales Handeln ist kein Ziel an und für sich, sondern ein Mittel zur Zielerreichung. Rational handelnde Individuen sollten in diesem Prozess keine logischen Fehler begehen, sondern intern konsistent handeln. Die von einer Person getroffene Auswahl von Alternativen aus den insgesamt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sollte bestimmten systematischen Anforderungen genügen. Wie in Experimenten vor allem von Psychologen gezeigt wurde, verstoßen die Menschen bei ihren Entscheidungen teilweise gegen diese logischen Anforderungen. Im Sinne der streng formalen Entscheidungstheorie handeln die Menschen sicherlich nicht rational. - Unter Rationalität kann aber auch allgemeiner eine "vernünftige Verfolgung des Eigeninteresses" verstanden werden. Diese Auffassung steht hinter dem homo oeconomicus, wie er in den Sozialwissenschaften angewandt wird. Einige Autoren unterstellen dabei, daß die Menschen ihren Nutzen unter Beachtung der durch die Umwelt gesetzten Nebenbedingungen maximieren. Allerdings ist diese strikte Annahme der Nutzenmaximierung nicht notwendig, um theoretisch und empirisch testbare Aussagen abzuleiten; sie erweist sich aber vielfach als günstig, wenn mathematische Formulierungen verwendet werden. - Die für die Erklärung der Wirklichkeit entscheidenden Überlegungen beruhen nicht auf der Nutzenmaximierung, sondern auf den oben diskutierten fünf Elementen des ökonomischen Verhaltensmodells: Individualimus, systematische Reaktionen auf Anreize, Trennung zwischen Präferenzen und Einschränkungen (wobei letztere Verhaltensänderungen bestimmen), Eigennutz und die Rolle der Institutionen. Dieser Ansatz entspricht der Vorstellung einer begrenzten Rationalität: Menschliche Entscheidungen werden in Form einer Reihe von Teilentscheidungen getroffen, damit sich sowohl die Information als auch der geistige Aufwand in Grenzen halten. Oft wird gewohnheitsmäßig gehandelt, was ein durchaus vernünftiges Vorgehen sein kann. Eine Person kann z. B. ein bestimmtes Ziel anstreben und damit zufrieden sein, wenn es erreicht ist (Satisficing); in diesem Falle wird völlig von der Maximierung abgerückt. Die "Rationalität" bezieht sich hier nicht auf das Ergebnis des Handelns, sondern auf die Art und Weise, wie der Mensch beim Handeln vorgeht, d. h. auf den Prozeß.
III. Bezug zu anderen Sozialwissenschaften: 1. Interdisziplinarität: Die a. Ö. wendet den gleichen theoretischen Ansatz auf die unterschiedlichsten Gebiete an. Interdisziplinarität bezieht sich nicht auf die wissenschaftlichen, sondern auf die inhaltlichen Gebiete. Die Verwendung eines einheitlichen Ansatzes erlaubt es, unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft aus einer Sicht zu betrachten und damit nahtlos miteinander zu verknüpfen. Die Sozialwissenschaften teilen sich nicht mehr nach ihrem jeweiligen (dominanten) Anwendungsgebiet auf, insbes. beschränkt sich die Wirtschaftswissenschaft nicht mehr auf den Bereich der Wirtschaft. - Diese Form der Interdisziplinarität - die Anwendung einer (der ökonomischen) Denkweise auf viele unterschiedliche Gebiete - unterscheidet sich drastisch von dem, was heute üblicherweise unter "Interdisziplinarität" verstanden wird, nämlich die Vermischung der methodischen Ansätze unterschiedlicher Wissenschaften, bei der häufig die Kriterien der Wissenschaftlichkeit geopfert werden, weil sich nur eine Einigung auf dem untersten gemeinsamen Niveau finden läßt. Das Ergebnis überzeugt in der Regel bei dieser Art von "Interdisziplinarität" nicht. - 2. Vergleich zum soziologischen Verhaltensmodell: In der Soziologie und (zumindest im deutschsprachigen Raum) in der Politikwissenschaft, aber implizit auch in der Rechtswissenschaft, wird überwiegend ein vom ökonomischen Ansatz stark abweichendes Modell menschlichen Verhaltens zugrundegelegt. In diesen Wissenschaften wird das Verhalten der Individuen als durch moralische Einflüsse und gesellschaftliche Strömungen bestimmt angesehen. Diese sozialen Faktoren menschlichen Handelns werden durch Sozialisierungs- und Internalisierungsprozesse (Sozialisation) aufgenommen. Individuen, die von diesen gesellschaftlich gesetzten Normen abweichen, werden bestraft, wodurch ein moralisch erwünschtes Verhalten erreicht wird. Das Modell des "homo sociologicus" besteht aus drei zentralen Elementen: (1) Das menschliche Handeln wird durch die Gesellschaft bestimmt. Am Anfang steht die Gesellschaft als eine Einheit, aus der sich das Verhalten des Einzelnen ableitet. Der Mensch ist durch seine gesellschaftliche Umwelt programmiert. (2) Der Mensch verhält sich gemäß einer Rolle. Die Gesellschaft besteht aus einem Geflecht von Verhaltensmaßregeln, in das der Einzelne eingewiesen wird. Das System von Rollen bewirkt Verhaltenserwartungen, so daß ein Zusammenleben möglich wird. Abweichungen vom Rollenverhalten sind bei unzureichender Sozialisierung möglich. (3) Normabweichungen werden von der Gesellschaft sanktioniert. Bestrafung dient somit zur Ergänzung und Verstärkung der Sozialisierung, die vor allem in der Jugend und in der Familie geschieht. Aus dieser Skizzierung wird deutlich, daß dem homo sociolgicus nicht eigene Kräfte zugeschrieben werden, die ihm erlauben, zu lernen und Lösungen zu finden. Er hat keine Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Handlungen zu wählen und zu substitutieren, und vor allem sich für die günstigste Alternative zu entscheiden. Einschränkungen werden ausschließlich durch Sanktionen und Rollenerwartungen anderer Menschen gesetzt, nicht aber durch Einkommen, Preise, Zeit oder institutionelle Faktoren. Damit wird auch der Knappheit der Möglichkeiten keine Beachtung geschenkt.
IV. Anwendungsgebiete und Verbreitung: Im Rahmen der a. Ö. wird das ökonomische Verhaltensmodell auf Gebiete angewandt, die bisher anderen Sozial- und Geisteswissenschaften vorbehalten waren. Eine der am weitesten entwickelten Varianten der a. Ö. ist die Ökonomische Theorie der Wirtschaftspolitik. Hier wird das Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaft auf politikwissenschaftliche Themen angewandt, z. B. auf Probleme von Abstimmungen und gesellschaftlichen Entscheidungen, auf den Parteienwettbewerb und das Verhalten von Regierungen, auf die Bildung und den Einfluß von Interessengruppen und auf das Verhalten von Bürokratien. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die "konstitutionelle Ökonomie", die sich mit der Entstehung und Wirkung von Regeln - darunter auch staatlichen Verfassungen - beschäftigt, was entscheidende Auswirkungen auf die Theorie der Wirtschaftspolitik hat. Die Ökonomische Theorie der Politik hat bisher in Europa noch kaum Fuß fassen können, ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo sich diese Sicht der Politik unter dem Begriff "Public Choice" als ernstzunehmender Ansatz weitgehend durchgesetzt hat. - Die a. Ö. befaßt sich auch mit der Theorie internationaler Beziehungen. Hierzu wurde die ökonomische Denkweise in Form der Internationalen Politischen Ökonomie angewandt. In der Ökonomik des Konflikts wurde vor allem die Spieltheorie für die Analyse von Auseinandersetzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen herangezogen. Eng damit verwandt ist die Ökonomik vom Krieg und die Ökonomik des Friedens. - Verschiedene "typisch" soziologische Fragestellungen wie etwa die Entstehung von Normen, Regeln oder Institutionen sind ebenfalls mit dem ökonomischen Denkansatz untersucht worden. Das gleiche gilt für das Gebiet der Soziologie des abweichenden Verhaltens, welches heute im Rahmen der Ökonomik der Kriminalität behandelt wird und für das Gebiet der Familiensoziologie (Ökonomische Theorie der Familie). In der Soziologie wird der Rational-Choice-Ansatz bisher nur von einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern in seiner Allgemeinheit verwendet. Hingegen sind einzelne Elemente des ökonomischen Ansatzes - allen voran Olsons Theorie der Interessengruppen - aufgenommen worden. - Im Rahmen der Geschichtswissenschaft ist die ökonomische Betrachtungsweise - über die Wirtschaftsgeschichte hinaus - vielfach zum besseren Verständnis historischer Ereignisse verwendet worden ("Neue Wirtschaftsgeschichte"). Werden zusätzlich zur Wirtschaftstheorie die abgeleiteten Hypothesen auch ökonometrisch getestet, wird in Anlehnung an die Göttin der Geschichte, Klio, auch von Kliometrie gesprochen. - Die a. Ö. liefert auch Beiträge zu Gebieten der Rechtswissenschaft. Die Ökonomik des Rechts befaßt sich mit dessen öffentlichem Teil (in Form der konstitutionellen Ökonomie), mit dem Strafrecht (in Form der Ökonomik der Kriminalität), hauptsächlich aber mit dem privaten Recht. Dabei wird nicht nur analysiert, welche Auswirkungen bestimmte Rechtsnormen auf das gesellschaftliche Geschehen ausüben, sondern auch wie das Recht entsteht und wie es zur Erreichung bestimmter Ziele beschaffen sein sollte. Als theoretische Grundlage dient vor allem die Theorie der Eigentumsrechte und die Theorie der Transaktionskosten. In den Vereinigten Staaten ist der ökonomische Ansatz heute gut etabliert. Im deutschen Sprachraum hingegen wird die Ökonomie des Rechtes von den Juristen (abgesehen von einigen engagierten Ausnahmen) noch weitgehend ignoriert oder ohne ernsthafte Prüfung zurückgewiesen. - Obwohl der Bezug der a. Ö. zur Psychologie besonders eng ist, ist bei den Psychologen das ökonomische Menschenbild mit der Betonung des Möglichkeitsraumes zur Erklärung des Verhaltens weitgehend unbekannt. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Berücksichtigung psychologischer Effekte beim Verhalten der Menschen im wirtschaftlichen Raum, wie etwa in der (Sozial-)Psychologie des Konsums, Sparens oder Steuerzahlens, wo eine Interdisziplinarität verwirklicht ist. - Neben diesen Gebieten finden sich eine Vielzahl von Anwendungen des ökonomischen Ansatzes auf Probleme der Umwelt (Umwelt- und Ressourcenökonomik), der Kunst (Kunstökonomie), des Sports (Ökonomie des Sports), der Gesundheit (Gesundheitsökonomik) und viele andere mehr. - Die Beiträge im Rahmen der a. Ö. haben bei den Vertretern der angestammten Wissenschaften unterschiedlichen Anklang gefunden. Einige sind der Ansicht, ein "ökonomischer Imperialismus" sei grundsätzlich abzulehnen - derselbe "Imperialismus" von Seiten anderer Wissenschaften wird hingegen als etwas ganz anderes angesehen. Typischerweise wird nämlich von den Gegnern des ökonomischen Ansatzes als selbstverständlich akzeptiert, daß Soziologie, Psychologie und ein Recht der Kunst als legitim angesehen werden, nicht jedoch eine Ökonomie der Familie oder der Kunst. Aus dieser asymmetrischen Behandlung der soziologischen, psychologischen und juristischen im Vergleich zu den ökonomischen Ansätzen ist zu schließen, daß das Problem nicht so sehr in der Übertragung einer Wissenschaft auf ein anderes Gebiet, sondern im Denkstil liegt.
Literatur: Becker, Gary S.: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982; Boettcher, E./Herder-Dorneich, P./Schenk, K.-E. (Hrsg.): Interdisziplinarität - Voraussetzungen und Notwendigkeiten. Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie Bd. 7, Tübingen 1988; Frey, B. S.: Ökonomie ist Sozialwissenschaft, München 1990; McKenzie, R. B./Tullock, G.: Homo Oeconomicus. Ökonomische Dimension des Alltags, Frankfurt a. M. 1985; Pommerehne, W. W. /Frey, B. S. (Hrsg.): Ökonomische Theorie der Politik, Heidelberg 1979; Radnitzky, G./Bernholz, P. (Hrsg.): Economic Imperialism. The Economic Method Applied Outside the Field of Economics, New York 1987; Schäfer, H.-B./Ott, C.: Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, Heidelberg 1986; Sodeur, W. (Hrsg.): Ökonomische Erklärungen sozialen Verhaltens, Duisburg 1983.
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