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Theorie der Sozialpolitik

1. Begriff: a) Eine allgemeine Theorie im Sinne des kritischen Rationalismus als ein konsistentes System bewährter Gesetzesaussagen ist für den Erfahrungsbereich der Sozialpolitik nicht gegeben und wohl auch nicht erreichbar. Der sozialwissenschaftliche Theoriebegriff bezieht systematisch gewonnene historische Erfahrung und daraus begründbare Vermutungen, raum-zeitlich gebundene Quasigesetze oder reine Denkmodelle ein. - b) Der Erfahrungsgegenstand praktischer Sozialpolitik ist zum einen ein Teil der Politik und umfaßt insofern gesellschaftliche Willensbildung und kollektive Entscheidungen. Die Besonderheit der Sozialpolitik ist in dem (komplexen) Bezug dieses Bereichs der Politik auf eine gesellschaftliche Schwäche der Lebenslagen von Individuen und Personenmehrheiten (Gruppen, "Klassen" etc.) zu sehen. Die gesellschaftliche Schwäche bestimmter Bevölkerungsgruppen erscheint dabei angesichts der gegebenen grundlegenden Ordnungsregeln und bestimmter gesellschaftlicher Ziele in bezug auf die Lebenslagen als ein "soziales Problem", das der politischen Lösung bedarf (vgl. auch Sozialpolitik 1). - 2. Entwicklung: a) Die Wissenschaft von der Sozialpolitik ist in Deutschland als "Tochter der Nationalökonomie" (Leopold von Wiese) entstanden und war in der "praktischen Nationalökonomie" neben den Einzelbereichen der Wirtschaftspolitik als Querschnittsdisziplin angesiedelt. Die sozialpolitische Fragestellung nach den Möglichkeiten der Überwindung der Arbeiterfrage führte zur Gründung des Vereins für Socialpolitik, der bis in die Gegenwart - heute unter dem Namen "Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Verein für Socialpolitik e. V." - die zentrale Vereinigung von Nationalökonomen im deutschen Sprachraum geblieben ist. - b) Entsprechend der dogmengeschichtlichen Entwicklung des ökonomischen Denkens wurden ökonomische Begriffe und wirtschaftswissenschaftliche Analysemethoden auch zur Erfassung sozialer Probleme und zur Beantwortung sozialpolitikwissenschaftlicher Fragestellungen herangezogen. Dabei konzentrierte sich die ökonomische Theorie der Sozialpolitik zunächst auf die Mißstände im Verteilungsprozeß und die Probleme der Umverteilung. Später analysierte sie die Sozialausgaben im volkswirtschaftlichen Kreislaufzusammenhang und die Überwälzungsprobleme bei Beiträgen und Transfers. In der gegenwärtigen Renaissance neoklassischen Denkens wendet die ökonomische Theorie der Sozialpolitik den mikroökonomischen Ansatz des homo oeconomicus verstärkt auch auf die Lösung sozialpolitischer Probleme an. - 3. Die Wissenschaft von der Sozialpolitik wird nicht durch die Abgrenzung der praktischen Sozialpolitik, sondern erst durch die Fragestellungen an diesen Erfahrungsgegenstand (Erkenntnisobjekte) und durch die Methoden der Analyse des Erfahrungsgegenstandes konstituiert. Unterscheidbar und von erheblicher tatsächlicher Bedeutung sind die deskriptive (vgl. b)) und die technologische Fragestellung (vgl. c)). - a) Für eine erfahrungswissenschaftliche Theorie der Sozialpolitik ist die Werturteilsproblematik (Werturteilsfreiheit) zwar wegen der historischen Vermischung von wissenschaftlichen Aussagen und politischen Forderungen (Kathedersozialisten) bis in die Gegenwart von besonderer Bedeutung. Das Werturteilsproblem macht aber weder aufgrund der Wertgebundenheit von Basisentscheidungen des Wissenschaftlers über Gegenstand und Methode seiner Forschung, noch aufgrund der Werte und Ziele praktischer Sozialpolitik als Gegenstand der Wissenschaft oder aufgrund der Zielbezogenheit technologischer Aussagen eine normative Sozialpolitikwissenschaft erforderlich. Die mißverständliche Forderung danach wird u. a. verstärkt durch die im angelsächsischen Sprachraum übliche Unterscheidung von "positive and normative economics" für deskriptive vs. technologische Fragestellungen der Wirtschaftswissenschaften. - b) Deskriptive Theorie der Sozialpolitik: (1) Historische Analysen und raum-/zeitbezogene Darstellungen der praktischen Sozialpolitik können strukturbildende Merkmale der jeweiligen Ausgestaltung der Sozialpolitik pointierend hervorheben (Historische Schule, Gefahr des Historismus) Entwicklungstendenzen der Sozialpolitik aufzeigen oder zur Formulierung abstrahierender und generalisierender Hypothesen anregen. - Als Grundmodelle konkreter Sozialpolitik-Systeme können der Sozialstaat und der Wohlfahrtsstaat angesehen werden. Eine Charakterisierung von Systemen der sozialen Sicherung läßt sich darüber hinaus anhand der Orientierung an der Bismarckschen Sozialversicherungspolitik oder am Beveridge-Plan vornehmen. - Aus der historischen Analyse des sozialen Fortschritts - von der staatlichen Reaktion auf die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart - ergibt sich die Vermutung, daß die Entwicklung der Sozialpolitik von der Entwicklung wirtschaftlichen Wohlstandes abhängt bzw. daß sie generell aus der Wechselwirkung von sozialem Problembewußtsein, Problemlösungsbereitschaft und wachsender Problemlösungsfähigkeit erklärt werden kann (Lampert, H., 1995). Für die deutsche Sozialpolitik lassen sich diese Entwicklungstendenzen mit dem Wandel von einer "Lazarettstation des Kapitalismus" zur "Schutzpolitik" und schließlich zur "Ausgleichs- und Gesellschaftspolitik" (Hans Achinger) charakterisieren. (2) Eine erfahrungswissenschaftliche Theorie der Sozialpolitik bedarf zunächst einer Theorie "sozialer Probleme", um über die Erklärung des Zustandekommens dieser Probleme (Diagnose) und über die Voraussage der Entwicklung (Prognose), den Handlungsbedarf im Vergleich zu den unterstellten Zielsetzungen zu bestimmen, und um im nächsten Schritt technologische Aussagen über Handlungsmöglichkeiten (Mittel, Instrumente) und deren Einsatz (Maßnahmen), also über eine "Therapie", vorzunehmen. - Die Abgrenzung sozialer Probleme kann analog zur Begründung von Staatseingriffen in das Geschehen in einer Marktwirtschaft in der Theorie der Wirtschaftspolitik im Falle von Marktversagen erfolgen (Sozialpolitik). Angesichts der Ausrichtung der Sozialpolitik auf soziale Probleme in Form einer gesellschaftlichen Schwäche der Lebenslagen von Personen und Personenmehrheiten sollte die Erforschung von Lebenslagen im Mittelpunkt der Theorie sozialer Probleme stehen. - Für die politische Durchsetzung sozialpolitischer Anliegen und Ziele ist auch das Wissen über Gesetzmäßigkeiten der politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse relevant. Die staatliche Sozialpolitik greift jedoch - wie die Geschichte der Reaktion auf die Probleme des industriellen Proletariats gezeigt hat - soziale Probleme nicht unbedingt nach der Rangordnung ihrer Dringlichkeit auf, wie sie sich für einen objektiven Beobachter darstellen würde, sondern entwickelt eigenes Problembewußtsein und eigene Dringlichkeitsvorstellungen (Sozialpolitik 4). Beeinflußt wird dies auch durch die Funktionsbedingungen der Bildung öffentlichen Problembewußtseins über Massenmedien (im Wettbewerb um Leser oder Einschaltzeiten) und durch die Beteiligung von Interessenverbänden. Beides kann zu einer Selektion sozialer Probleme in der sozialpolitischen Willensbildung führen, derart, daß schwer organisierbare Interessen und damit bestimmte gesellschaftlich schwache Gruppen und soziale Probleme vernachlässigt werden (Logik kollektiven Handelns, Mancur Olson). Außerdem entstehen dadurch unter Umständen Überforderungen der Problemlösungskapazität der staatlichen Sozialpolitik, Verschärfungen von Verteilungskonflikten und Prestige-Konflikte (Besitzstandswahrung), so daß in der Folge die sozialpolitischen Anpassungsprozesse gelähmt werden können und insgesamt die Gefahr eines Sozial- Staatsversagens gegeben ist. - c) Technologische Theorie der Sozialpolitik: Die Theorie von der Sozialpolitik entstand aus dem praktischen Bedürfnis zur Lösung sozialer Probleme. Die anwendungsorientierte technologische (teleologische) Fragestellung richtet sich auf die Mittel (Instrumente) und Wege zur Erreicheung sozialpolitischer Ziele. Wie in der Theorie der Wirtschaftspolitik nehmen wissenschaftliche Aussagen über Handlungsmöglichkeiten (Kunstlehre) den Großteil der Literatur für Sozialpolitik ein. Die Möglichkeiten und Grenzen technologischer Aussagen in der Sozialpolitik werden durch das verfügbare Wissen über die Ursachen sozialer Probleme bzw. über die Bedingungen für die Erreichung der gesellschaftlichen Ziele im Rahmen von grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsregeln bestimmt. Dabei kann zunächst zwischen Aussagen über sozialreformatorische Handlungsmöglichkeiten (innerhalb der gegebenen Ordnungsregeln) und sozialrevolutionäre Handlungsmöglichkeiten (ggf. unter Einschluß von Gewalt) unterschieden werden. Im Rahmen einer solchen Technologie für eine soziale Reformpolitik kann weiter zwischen Aussagen für eine Sozialordnungspolitik und eine sozialpolitische Prozeßpolitik (soziale Prozeßpolitik) unterschieden werden. - (1) Die Sozialordnungspolitik beinhaltet die Möglichkeiten einer Schaffung von sozialpolitischen Rahmenregelungen, die die grundlegenden Ordnungsregeln einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordung ergänzen, sowie der Schaffung, Aus- und Umgestaltung sozialer und sozialpolitischer Institutionen und der Beeinflussung von gesellschaftlich verbreiteten Verhaltensnormen und -gewohnheiten (Sitten und Gebräuche), wie z. B. der Solidarität unter Arbeitnehmern oder der Bereitschaft zu Nachbarschaftshilfe. - Die soziale Prozeßpolitik kann auf die Beeinflussung der Entwicklung der Lebenslagen bei gegebener, aber offenbar für die konkrete Situation unzureichender Sozialordnung ausgerichtet sein, deren Notwendigkeit, wenn man vom utopischen Fall einer alle sozialen Probleme lösenden Sozialordnung absieht, wohl nicht völlig auszuschließen ist. Die soziale Prozeßpolitik kann aber auch Formen eines (konzeptionslosen, ad-hoc) Interventionismus annehmen, der die Vorzugswürdigkeit ordnungspolitischer Maßnahmen für eine Lösung sozialer Probleme nicht beachtet und zudem das Euckensche Postulat der Politikkonstanz für eine Marktwirtschaft nicht berücksichtigt. - (2) Die technologischen Aussagen im engeren Sinne bestehen in der Entdeckung und Formulierung von Handlungsmöglichkeiten aus der Umformung erfahrungswissenschaftlicher Theorien sowie in der konkreten Bestimmung einer Therapie. Unabhängig von konkreten sozialen Problemlagen können allgemeine Aussagen über Handlungsmöglichkeiten, also über das Instrumentarium der Sozialpolitik entwickelt und Wirkungsanalysen für Instrumente vorgenommen werden. Bei den Wirkungsanalysen sind Fragen der Inzidenz von Belastungen (Kosten) und Vorteilen (Nutzen) einer Maßnahme auf Personen und Personengruppen sowie der Interdependenz zwischen verschiedenen Instrumenten zu berücksichtigen. - Bei der Bestimmung einer Therapie führen konkretisierte Zielsetzungen zur Auswahl der Probleme und zu einer Sollsituation, die im gesellschaftlichen Prozeß selbst nicht zu erreichen ist, sondern durch den Einsatz sozialpolitischer Mittel (Maßnahmen) in einem bestimmten Zeitpunkt und einer bestimmten Dosierung durch konkrete Träger der Sozialpolitik herbeigeführt werden soll. Die Konkretisierung einer Therapie setzt die Bestimmung des sozialpolitischen Handlungsbedarfs aufgrund einer Diagnose der Entstehung des jeweiligen sozialen Problems und einer Prognose seiner Entwicklung im Verhältnis zum unterstellten Ziel voraus. - (3) Im Anschluß an eine sozialpolitische Intervention kann eine konkrete Erfolgskontrolle des Instrumenteneinsatzes (der Therapie) durchgeführt werden. - 4. Herausforderungen: Im Rahmen der traditionellen Ausrichtung der praktischen Sozialpolitik hat sich neuer Forschungsbedarf ergeben: Implementation einer freiheitlichen Sozialpolitik in den neuen Bundesländern; Entwicklung einer Sozialpolitik für die Transformationsländer; Anpassung der Sozialpolitik an den Wandel der Bevölkerungsstruktur und an die veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Berücksichtigung deren Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Nationen; Frage nach den Möglichkeiten eines Umbaus des Sozialstaates. Grundlegend neue soziale Probleme könnten sich aus den Versuchen ergeben, (1) in Anpassung an die Globalisierung der Wirtschaft auch für die Erfassung sozialer Probleme in globalen Dimensionen zu denken und (2) den Generationenvertrag nicht nur als Idee zur Begründung eines Umlageverfahrens der Alterssicherung, sondern als Leitidee einer langfristig ausgerichteten, auch die Sicherung der Lebenslagen zukünftiger Generationen einbeziehenden Sozialpolitik zu verstehen.

 

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