Wirtschaftslexikon - Enzyklopädie der Wirtschaft
lexikon betriebswirtschaft Wirtschaftslexikon lexikon wirtschaft Wirtschaftslexikon Suche im Wirtschaftslexikon
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
 
 
 

gesellschaftliche Schwäche

1. Begriff: Die Abgrenzung personenbezogener "sozialer Probleme" durch das analytische Konstrukt der g. S. der Lebenslagen vermeidet die Assoziation mit Armut im allgemeinen Sprachverständnis und verdeutlicht die Abhängigkeit gesellschaftlicher Schwäche (1) von den grundlegenden Ordnungsregeln, (2) von der tatsächlichen Möglichkeit der Menschen, die den Ordnungsregeln entsprechenden Rollen zu spielen und (3) von den gesellschaftlichen Zielen in bezug auf die Lebenslagen, die sich im politischen Willensbildungsprozeß durchsetzen oder vom Wissenschaftler unterstellt werden. - Vgl. auch Theorie der Sozialpolitik. - 2. Aktuelle Merkmale gesellschaftlicher Schwäche: Der Arbeitnehmer ist heute nicht mehr in der extremtypischen Lebenslage des Proletariers des 19. Jahrhunderts. Dennoch wird mit dem Status der abhängigen Beschäftigung in der Regel die Vermutung einer gesellschaftlichen Schwäche verbunden. a) Abhängige Beschäftigung und Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer: Bei der Wahrnehmung der persönlichen Entfaltungsfreiheit (Art. 2 GG) sowie der Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl (Art. 12 GG) und insbes. im Verhältnis zum Arbeitgeber erscheint der Arbeitnehmer der sozialpolitischen Förderung und des Schutzes bedürftig. Die in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung grundsätzlich vorrangige Selbstverantwortlichkeit der Bürger und die Gleichberechtigung bei der Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte werden daher zugunsten der Arbeitnehmer durch gesetzliche Normen eingeschränkt (Individualarbeitsrecht, Arbeitnehmerschutz). Darüberhinaus wird den Arbeitsvertragsparteien die Koalitionsfreiheit und damit die Tarifautonomie für eine verbindliche Vereinbarung von Mindestbedingungen für Einzelarbeitsverträge eingeräumt (Kollektivarbeitsrecht, Tarifvertrag, Lohnpolitik). Auch der normale Arbeitnehmer der Gegenwart erscheint als gesellschaftlich schwach wegen der existenziellen Verbundenheit von Arbeitsleistung und Persönlichkeit des Arbeitnehmers, die vor allem bei (andauernder) Arbeitslosigkeit deutlich wird, wegen der - trotz verbreiteter Kaufkraftreserven gegebenen - Angewiesenheit des Arbeitnehmers auf die Verwertung seiner Arbeitskraft, wegen der an das Eigentum an den Produktionsmitteln gebundenen Hierarchie und Weisungsbefugnis im Unternehmen sowie wegen der Unvollkommenheit der Arbeitsmärkte. - b) Standardrisiken: Das marktwirtschaftliche Prinzip der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung (Leistungsgerechtigkeit) begründet eine weitere g. S. des Arbeitnehmers für die Zeiten, in denen eine am Arbeitsmarkt verwertbare Arbeitsleistung nicht oder nicht in ausreichender Qualität oder Quantität erbracht werden kann. Damit stellt sich das Problem der sozialen Sicherung gegen die Standardrisiken eines normalen Lebens: Kindheit/Jugend, Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter und Pflegebedürftigkeit. - c) Eingeschränkte Konsumfreiheit: Auch bei anderen Problemen im Wirtschaftsleben können sich aus der Diskrepanz zwischen Grundannahmen für die generellen Ordnungsregeln und den tatsächlichen Fähigkeiten der Individuen, ihre Rollen diesen Regeln gem. zu spielen, sozial schwache Gruppen und somit sozialpolitische Aufgaben ergeben. So kann die aus der persönlichen Entfaltungsfreiheit ableitbare Konsumfreiheit (bzw. Freiheit der Einkommensverwendung) vielfach nicht mit der erwünschten Souveränität wahrgenommen werden, weil dem Konsumenten Informationen fehlen oder nur mit erheblichem Aufwand verfügbar gemacht werden können oder weil seine rationale Urteilsfähigkeit in bezug auf die Gesamtheit des Preis-Leistungsverhältnisses eingeschränkt ist. Dies wird insbes. im Bereich der Gesundheitsgüter und -dienstleistungen angenommen, aber zunehmend auch als Grund für eine generelle Verbraucherschutzpolitik bei der Nachfrage nach technologisch oder ökonomisch komplexen Gütern und Dienstleistungen (z. B. bei Versicherung und Kredit) genannt. - d) Benachteiligung von Familien: In der neueren Geschichte der Sozialpolitikwissenschaft wird immer wieder darauf hingewiesen, daß Familien, als die verbreitetste Form des unmittelbaren Zusammenlebens von Menschen, im Rahmen einer individualistischen offenen Wettbewerbsgesellschaft als gesellschaftlich schwach erscheinen. Dies gilt zum einen historisch infolge der Unvollständigkeit ihrer Ordnungsregeln bei der Internalisierung der Leistungen von Familien für die Gesellschaft (z. B. bei positiven externen Effekten der Kindererziehung für den Generationenvertrag) und zum anderen infolge der bisherigen Verletzung des Grundsatzes einer gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Leistungsfähigkeitsprinzip). Dies gilt darüberhinaus wegen der Irrelevanz des Familienstandes für das Leistungseinkommen, bezogen auf gesellschaftspolitische Vorstellungen von Bedarfsgerechtigkeit für Familien im Verhältnis zu Kinderlosen (z. B. orientiert an der Gleichheit gewichteter Pro-Kopf-Einkommen), soweit man die Entscheidung für Kinder nicht ausschließlich als Privatsache ansieht. - e) Diskriminierung: gesellschaftliche Schwäche S. kann schließlich auch aus systematischen und systembedingten Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsgruppen, etwa wegen ihres Geschlechts (Frauendiskriminierung) oder der Zugehörigkeit zu ethnischen und sonstigen Minderheiten (Ausländerfeindlichkeit, Rassismus), resultieren. Derartige Benachteiligungen widersprechen der Idee einer offenen Wettbewerbsgesellschaft, da sie die Wahrnehmung von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten erschweren und die Chancengerechtigkeit u. U. auch in dem Sinne reduzieren, daß die Betroffenen (unbegründet) bereits daran gehindert werden, Qualifikationen zu erwerben oder Vermögen zu bilden, mit deren Hilfe sie eine Stellung in der Gesellschaft und im Erwerbsleben erreichen könnten, die ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht.

 

<< vorheriger Begriff
nächster Begriff>>
gesellschaftliche Entscheidungsfunktion
gesellschaftliche Strategien

 

Diese Seite bookmarken :

 
   

 

  Weitere Begriffe : IEEE | Bruttowertschöpfung | Weg-Ziel-Ansatz der Führung | Prima-facie-Beweis | Gesellschaftsschulden
wiki wirtschaft

Thematische Gliederung | Unser Projekt | Impressum