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Rechtsstaatlichkeit
rule of law. 1. Begriff: Als Rechtsstaat wird ein Staat bezeichnet, in dem politische Herrschaft nur aufgrund und im Rahmen des Rechts ausgeübt wird (Dieter Grimm). Hierbei werden an eine Anerkennung hoheitlichen Handelns als legitimes Recht formelle und inhaltliche Voraussetzungen geknüpft, die dazu dienen, den einzelnen vor Übergriffen des Staates in seine individuellen Freiheitsrechte zu schützen. Zwar kann der Gedanke eines rechtlich gebundenen Staates bis in den Beginn der Neuzeit zurückverfolgt werden, doch kennzeichnet Rechtsstaatlichkeit als anerkanntes Verfassungsprinzip erst die liberal-bürgerlichen Gesellschaften am Anfang des 19. Jahrhunderts. Wenn auch der Begriff des Rechtsstaates eng mit spezifisch deutschen Rechtstraditionen verbunden ist, so weist er doch einige deutliche Entsprechungen mit Grundelementen des angelsächsischen Verständisses von "rule of law" bzw. "government under the law" auf. Nach der Ausdifferenzierung einer Rechtslehre, Ökonomik und Staatsdenken verbindenden Disziplin der Staatswissenschaften nimmt die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für wirtschaftliches Handeln des Staates und der Privaten nur mehr im Rahmen der Ordnungsökonomik einen breiteren Raum ein.
2. Verfassungsrechtliche Bedeutung: In der Staatsverfassung der Bundesrep. D. zählt das Rechtsstaatsprinzip zu den zentralen Leitideen. Es ist hier zwar nicht zu einem gesonderten Verfassungssatz konkretisiert, wird jedoch aus einer Zusammenschau wesentlicher Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) deutlich. Hierzu gehören insbes. die Art. 20 Abs. 3 und 1 Abs. 3 GG (Bindung der Staatsgewalten an Verfassung, Gesetz und Recht), Art. 20 Abs. 2 GG (Gewaltenteilung), Art. 19 Abs. 4 GG (Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte) und Art. 19 Abs. 2 GG (Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte). Hiervon ausgehend haben sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der vorherrschenden Lehrmeinung folgende Wesensmerkmale des Rechtsstaatsprinzips herausgebildet: a) Achtung der Grundrechte: Die Grundrechte des GG binden alle Organe der Staatsgewalt "als unmittelbar geltendes Recht" (Art. 1 Abs. 3 GG). Insbes. sind sie in ihrem Wesensgehalt der Disposition des Gesetzgebers entzogen (Art. 19 Abs.2 GG) und werden von unabhängigen Gerichten gewährleistet (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Vorrang der Verfassung einschließlich ihrer Grundrechtsordnung vor allen anderen Gesetzen und Rechtsvorschriften soll einen dauerhaften Schutz der Freiheit der Bürger vor Eingriffen des Staates gewährleisten. - b) Gewaltenteilung: Die Ausübung der Staatsgewalt hat "durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" zu erfolgen (Art. 20 Abs. 2 GG). Damit sollen unterschiedliche hoheitliche Funktionen in ein System gegenseitiger Abhängigkeit und Hemmung gebracht werden. Insbes. hat das Parlament die Regierung zu kontrollieren, während unabhängige Gerichte die Akte der Verwaltung auf ihre Rechtmäßigkeit und die Akte der Gesetzgebung auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen. - c) Gleichbehandlung durch das Gesetz: Grundsätzlich hat die Rechtsetzung in Form des allgemeinen und den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) respektierenden Gesetzes zu erfolgen. Damit soll vermieden werden, daß Einzelfallregelungen und Maßnahmegesetze allgemeingültige Gesetze derart verdrängen, daß dem Willkürverbot sowie der Trennung von Verwaltung und Gesetzgebung nicht mehr entsprochen werden kann. - d) Vorbehalt des Gesetzes: Nur auf der Grundlage eines förmlichen, vorher erlassenen Gesetzes dürfen staatliche Gewalten Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger vornehmen. Dies entspricht dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das den Erlaß von Verwaltungsakten an eine Ermächtigung durch den Gesetzgeber bindet und somit der Verwaltung nicht am Gesetz orientierte Ermessensentscheidungen verbietet. Dadurch, daß der Gesetzgeber wiederum den Wesensgehalt der Grundrechte, das Rückwirkungsverbot und das Klarheits- bzw. Bestimmtheitsgebot zu achten hat, soll dem Prinzip der Rechtssicherheit des Bürgers zusätzlich Geltung verschafft werden. - e) Verhältnismäßigkeit: Staatliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt haben im Hinblick auf den verfolgten Zweck die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren. Für die ausführende Gewalt heißt dies, daß sie bei der Anwendung von Gesetzen diejenigen Mittel zu wählen hat, die geeignet sind, den erstrebten Erfolg zu erreichen, hierbei den geringstmöglichen Eingriff in die Freiheitssphäre der Bürger bewirken (Erforderlichkeit) und gleichzeitig in einem zumutbaren Verhältnis zum Gewicht der betroffenen subjektiven Rechte stehen (Übermaßverbot).
3. Bedeutung im Rahmen der Ordnungsökonomik: Neben der Marktmäßigkeit gilt die Rechtsstaatlichkeit als zentrales Ordnungsprinzip marktwirtschaftlicher Systeme. Während die Marktmäßigkeit der Koordination individueller Wirtschaftspläne institutionell durch die Regeln der Privatrechtsgesellschaft ermöglicht wird, richtet sich das Gebot der Rechtsstaatlichkeit an die Träger hoheitlicher Staatsgewalt und dient dem Schutz dezentraler Selbstorganisation vor staatlichen Übergriffen. Die Ordnungsökonomik der Freiburger Schule räumt der Rechtsstaatlichkeit schon aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes und der Betonung einer durchgreifenden Interdependenz von Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (Interdependenz der Ordnungen) den Rang eines zentralen Ordungsprinzips ein. a) Rechtsstaatlichkeit und ordnungspolitische Grundsätze: Walter Euckens Grundsätze der Wirtschaftspolitik weisen weitreichende Entsprechungen mit der Idee der Rechtsstaatlichkeit auf: Privateigentum und Vertragsfreiheit werden zu, subjektiven Grundrechten vergleichbaren, "konstituierenden Prinzipien" erhoben; die "Konstanz der Wirtschaftspolitik" wird als Förderung der Planungssicherheit analog zum Rechtssicherheitsgedanken entwickelt und die funktionale Trennung von Staat und Gesellschaft soll durch Euckens "staatspolitische Grundsätze" abgesichert werden. Diese fordern einen starken Staat, d. h. eine Neutralisierung des Einflusses wirtschaftlicher Machtgruppen auf staatliche Entscheidungsträger sowie ein striktes Primat der Ordnungspolitik vor staatlicher Wirtschaftslenkung. Sie dienen ausdrücklich der Verteidigung des Rechtsstaates gegen zwei sich wechselseitig fördernde Gefahren: Zum einen drohen wirtschaftliche Machtgruppen eine "neufeudale Autoritätsminderung des Staates" (Eucken) zu bewirken, die zu Durchbrechungen der Prinzipien der Gleichbehandlung, Gewaltenteilung und Rechtssicherheit führen müssen. Dies beschreibt auch Franz Böhm als "Vergesellschaftung des Staates". Zum anderen gewährleistet nur eine Beschränkung auf die "Gestaltung der Ordnungsformen" (Eucken) der Wirtschaft eine Herrschaft allgemeiner Gesetze und nicht partikularer Interessen. Dem entspricht die Vorstellung Böhms, wonach einer "Verstaatlichung der Gesellschaft" nur entgegengewirkt werden kann, wenn sich der Rechtsstaat gegen einen unbeschränkten "Exekutivstaat" behauptet. Rechtsstaatlichkeit wird somit im Rahmen des ordoliberalen Programms zu einem Grundprinzip, das mehr als die staatsrechtliche Lehre auf die "Entsprechungszusammenhänge zwischen Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung" (Böhm) hinweist. Rechtsstaatlichkeit ist demnach nicht mit beliebigen Ordnungsformen der Wirtschaft vereinbar. Freiheitssicherung verlangt Machtkontrolle und Herrschaft der Gesetze nicht nur in der Staatsverfassung, sondern auch in der Wirtschaftsverfassung. Der Rechtsstaat hat deshalb auch eine wettbewerbliche Wirtschaftsordnung zu gewährleisten, um zu verhindern, daß wirtschaftliche Macht mit politischen Privilegien einhergeht und somit die Rechtsstaatlichkeit im Zuge wechselseitiger Durchdringung von Staat und Gesellschaft korrumpiert. - b) Die klassisch-liberale Idee der Rechtsstaatlichkeit bei Hayek: Bei Friedrich August von Hayek kommt dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in ihrer angelsächsisch-klassischen Bedeutung der "rule of law" eine zentrale Bedeutung zu. Sowohl sein Werk "Die Verfassung der Freiheit" als auch die Trilogie "Recht, Gesetzgebung und Freiheit" sind der Aufgabe gewidmet, die institutionellen Grundlagen freier Gesellschaften in ihrer Entwicklung und Bedeutung darzulegen. Mehr als in der Ordnungsökonomik der Freiburger Schule wird bei Hayek die Universalisierbarkeit von Regeln als wesentliches Formalkriterium des institutionellen Rahmenwerks spontaner Ordnungen analysiert. Solche "allgemeinen und abstrakten Regeln legen fest, daß unter bestimmten Umständen das Handeln bestimmte Bedingungen erfüllen muß" (Hayek, 1960/83, S. 183). Die Umstände sind allgemein und abstrakt zu bestimmen, d.h., sie müssen für eine unbekannte und unbestimmbare Zahl von Personen und Fällen gelten. Die zu erfüllenden Bedingungen sind möglichst offen bzw. negativ zu bestimmen, d.h. als Verbote, die - im Gegensatz zu Befehlen - nur spezifische Handlungen untersagen und somit dem einzelnen weiterhin die Verfolgung eigener Ziele und die Entdeckung neuer Handlungsmöglichkeiten erlauben. Schließlich wird gefordert, daß das Recht hinreichend bestimmt und gewiß sei. Rechtssicherheit bedeute jedoch nicht, daß alle Regeln, nach denen gehandelt werden soll und richterlich entschieden wird, im vorhinein detailliert niedergeschrieben werden müssen. Vielmehr herrsche das Recht, wenn richterliche Entscheidungen nach bekannten, voraussagbaren Grundsätzen getroffen werden. Universalisierbare Regeln ermöglichen derart eine Stabiliserung der Erwartungen autonomer Akteure, während sie gleichzeitig das System für neue Entwicklungen offen halten. Damit entsprechen sie dem evolutorischen Charakter von Marktsystemen.
Literatur: Böhm, F., Der Rechtsstaat und der soziale Wohlfahrtsstaat, in: ders., Reden und Schriften, Karlsruhe 1960; Eucken, W., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen 1990; Grimm, D., Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a. M. 1991; Hayek, F. A. v., Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl., Tübingen 1983; Hayek, F. A. v., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, drei Bände, Landsberg am Lech 1980/81; Herzog, R., Art. 20 und die Frage der Rechtsstaatlichkeit, in: Maunz, Th., Dürig, G., u. a., Grundgesetz, Kommentar, München, Bd. 2, 1994.
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