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Postkeynesianismus
I. Allgemeines: Weiterentwicklung der Keynesschen Lehre. Während für die Neue Keynesianische Makroökonomik die allgemeine Gleichgewichtstheorie Bezugspunkt der Analyse blieb, verzichten postkeynesianische Theorien auf das geschlossene Gerüst der Gleichgewichtstheorie, wenn es um die Erklärung der sich permanent ändernden Realität geht. Gleichgewichte sind dann Zustände, die aus sich heraus (endogen) für einige Zeit keine Tendenz zur Änderung zeigen (temporäre Gleichgewichte). Der langfristige Trend wird von Postkeynesianern als Abfolge temporärer Gleichgewichte bzw. Ungleichgewichte verstanden. - Die postkeynesianische Sicht ist noch nicht abgeschlossen, weil aus vielen Richtungen und Blickwinkeln an ihr gearbeitet wird. Sie will aber auch grundsätzlich nie endgültig geschlossen sein, da sie offen sein muß für (neue) historische und empirische Entwicklungen (insbes. struktureller und gesellschaftlicher Art). Insofern muß das postkeynesianische System laufend fortgeschrieben werden. Einig sind sich Postkeynesianer in der Ablehnung des neoklassischen (Neoklassik) bzw. monetaristischen (Monetarismus) Paradigmas und der daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Strategie (Abbau jeglichen staatlichen Stabilisierungsinterventionismus und Reprivatisierung aller Lebensbereiche).
II. Erweiterungen gegenüber der Keynesschen Lehre: Postkeynesianer knüpfen direkt an der Keynesschen Lehre an und erweitern sie in einigen wesentlichen Punkten, die im folgenden charakterisiert werden (vgl. auch Wachstumstheorie 3). 1. Zur Investitions- und Wachstumstheorie betonen Postkeynesianer den autonomen Charakter der Investitionen für Konjunktur, Wachstum und Einkommensverteilung. Dies folgt aus der Grundannahme, daß in wachsenden Wirtschaften die Einkommenseffekte bzw. Mengeneffekte die Substitutionseffekte überwiegen. Postkeynesianische Wachstumsmodelle basieren insofern auf Ansätzen vom Harrod-Typ, die prinzipiell die Wahrscheinlichkeit instabiler Investitionsprozesse nachweisen. Durch die Trennung von Sparen und Investieren tritt die Rolle des Investorenverhaltens bei Unsicherheit in den Vordergrund der Konjunkturerklärung. - 2. Bezüglich der Verteilungstheorie lehnen Postkeynesianer die traditionelle Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung zur endgültigen Erklärung von Verteilungsgesetzen ab. Sie betonen den Einfluß der Investitionen auf Preise, Beschäftigung und damit Verteilung (Keynes-Kaldor-Verteilungstheorie), aber auch die Bedeutung der Preissetzung für Investitionen und Beschäftigung (Kalecki). Beide Ansätze (Kaldor-Keynes und Kalecki) müssen gemeinsam betrachtet werden. Feste, vorgegebene Verteilungsstrukturen oder -quoten lassen sich dabei nicht ableiten, wenn auch einige Wechselbeziehungen zwischen Einkommensverteilung, Investitionen, Wachstum, Beschäftigung und Inflation bestehen. Die Verteilung ist in Grenzen (in Richtung Verteilungsgerechtigkeit) beeinflußbar, ohne daß ökonomische Widerstände auftreten. - Da der Markt allein nicht in der Lage ist, Verteilungsfragen zu lösen und die Wechselwirkungen zwischen Verteilung, Beschäftigung, Investitionen und Wachstum bestehen, ist für Postkeynesianer eine umfassende und allgemeine Einkommenspolitik von essentieller Bedeutung. Sie erfaßt alle Einkommen, nicht nur die Lohneinkommen. Sie läßt sich nicht unabhängig von der Investitionspolitik rechtfertigen. Voraussetzung für eine erfolgversprechende Einkommenspolitik ist ein Konsens der Gruppen über die Verteilung (Sozialkontrakt). - 3. Zum Komplex Preisbildung, Preismechanismus und Allokation (Preistheorie) unterteilen Postkeynesianer die Wirtschaft in einen sog. Wettbewerbsbereich mit flexiblen Preisen und in einen konzentrierten Oligopolbereich mit autonomer (verteilungsorientierter) Preissetzung. Im letzteren sind die Funktionen des Preismechanismus (Koordination, Lenkung und Allokation) z. T. außer Kraft gesetzt. Zudem werden auf Oligopolmärkten alternative Gewinnverwendungsstrategien, Neigung zu Überkapazitäten und Konzentration diagnostiziert. - 4. Die postkeynesianische Analyse des Arbeitsmarktes folgt auf der Nachfrageseite den Vorstellungen von Keynes und auf der Angebotsseite den Segmentationstheorien. Weder die Nachfrage nach noch das Angebot an Arbeit werden nach diesen Überlegungen in nennenswertem Umfang durch den Reallohn bestimmt. Der Arbeitsmarkt ist folglich kein Markt im üblichen Sinn, da der Preis (der Lohnsatz) nicht in der Lage ist, für eine Markträumung zu sorgen. Arbeitslosigkeit läßt sich demnach i. d. R. nur über Maßnahmen zur Stimulierung der Arbeitsnachfrage beseitigen. - 5. Der Postkeynesianismus befaßt sich mit dem dynamischen Verhalten konkreter ökonomischer Systeme, lehnt insofern die Beschränkung neoklassischer Modelle auf kompetitive Marktprozesse ab. Preisrigiditäten, Mengenungleichgewichte, Erwartungen und Verhalten bei Unsicherheit spielen für die postkeynesianische Dynamik eine entscheidende Rolle. Die Ungleichgewichtstheorien werden von Postkeynesianern durch explizite Einbeziehung von gesellschaftlichen Dauerkonflikten (Konflikttheorien) und durch Berücksichtigung echter Zukunftsunsicherheit erweitert. - 6. Postkeynesianer betonen im Anschluß an Keynes die Rolle der Unsicherheit bei wirtschaftlichen Anpassungsprozessen. Sie liegt im Gegensatz zum Risikofall dann vor, wenn weder objektive noch subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen zur Verfügung stehen. Insofern ist eine wahrscheinlichkeitstheoretische Formulierung der Entscheidungsprobleme nicht möglich und die Erwartungsbildung folgt keinem einheitlichen, zeitlosen Muster. Erwartungsbildung und Verhalten bei echter Unsicherheit können nicht eindeutig definiert werden, sind nicht konstant, z. T. auch willkürlich und stehen in enger Wechselbeziehung zur dynamischen Entwicklung der Wirtschaft. - Erwartungen gründen sich aus postkeynesianischer Sicht nicht nur auf Entwicklungen der Vergangenheit, wie sie sich etwa in autoregressiven Ansätzen widerspiegeln. Sie resultieren auch aus mehr oder weniger sachverständigen Einsichten in die ökonomischen und gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge und werden durch Einflüsse des sozialen und institutionellen Bezugsrahmens mitbestimmt, wie sie sich in den Ansätzen der Soziologie und Sozialpsychologie widerspiegeln. Die Einflußstärken der Determinanten Vergangenheit, Vorstellungen über die Funktionsweise des Systems, sozialer Bezugsrahmen etc. sind nicht festgeschrieben, sondern variieren im Zeitablauf. Eindimensionale Erwartungen und damit eindeutige Entscheidungen sind allenfalls die Ausnahme, im allgemeinen ist mit mehrdimensionalen, nicht einheitlichen Erwartungen zu rechnen. - 7. Nach postkeynesianischer Meinung ist eine realitätsbezogenene Wirtschaftspolitik nur im Rahmen einer Ungleichgewichtsanalyse möglich, die angesichts der sich laufend ändernden historischen Abläufe, institutionellen Bedingungen und technischen Gegebenheiten, angesichts vielfältiger und dauerhafter sozialer Interessenkonflikte Theorie permanenter Ungleichgewichte ist. Im Gegensatz zur neoklassischen Gleichgewichtstheorie versucht sie, die Realität der Unsicherheiten, Oligopole, neuer Technologien und sozialer Konflikte einzufangen. Die wirtschaftspolitischen Strategien der Postkeynesianer sind naturgemäß vielfältig und flexibel. Diskutiert werden insbes.: a) "Sozialisierung" eines Teils der Investitionsentscheidungen, welche eine stabilisierende langfristige Investitionspolitik ermöglichen soll; b) interventionistische Gegensteuerung durch keynessche Globalpolitik, die vornehmlich an der Hauptdeterminante Investitionen ansetzt, und je nach Diagnose und Wertung der Realität flexibel gehandhabt werden soll; c) Absicherung der Steuerung durch eine umfassende Einkommenspolitik; d) Einbeziehung und explizite Integration realer, gesellschaftlicher Dauerkonflikte in die wirtschaftspolitischen Empfehlungen (Offenlegung von unumgänglichen Werturteilen). - 8. Geldtheorie: Weiterentwicklung der Keynesschen Lehre auf Basis des IS-LM-Modells, das ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht von Geld- und Gütermarkt aufzeigt. Durch Einbeziehung portfoliotheoretischer Überlegungen (Portfolio Selection) wird die Keynessche Theorie um einen zweiten Übertragungsmechanismus monetärer Impluse auf den realen Sektor ergänzt. Eine expansive Geldpolitik, die auf eine Verminderung des Nominalzinses abzielt, läßt danach die Ertragssätze aller im Portefeuille befindlichen finanziellen Aktiva sinken. Dies veranlaßt die Wirtschaftssubjekte, Finanzanlagen durch reale Anlagen zu ersetzen, deren Rentabilität c. p. dann über denen der Finanzanlagen liegt, da zuvor Portfoliogleichgewicht herrschte. Der sinkende Marktzins regt die Unternehmer zu einer höheren Investitionstätigkeit an. Daraus resultiert eine Erhöhung der Gesamtnachfrage über den Mutiplikatoreffekt der Investitionsausweitung. Steigende Realeinkommen bewirken dann eine höhere Nachfrage nach Transaktionskasse. Dies und die Reduzierung der realen Geldmenge infolge einer möglichen Preisniveauerhöhung bringt den ursprünglichen Expansionsprozeß wieder zum Stillstand, bis neue geldpolitische Maßnahmen ergriffen werden.
Literatur: Eichner, A. S./Kregel, J. A., An Essay on Post-Keynesian Theory: A New Paradigm in Economics, 1975, JEL 13/1975, S. 1293-1314; Minsky, H. P./Keynes, J. M., New York 1975; Rothschild, K. W., Einführung in die Ungleichgewichtstheorie, Berlin, Heidelberg, New York 1981; ders. (Hrsg.), Über Keynes hinaus. Eine Einführung in die postkeynesianische Ökonomie, Köln 1982; Thurow, L. C., Dangerous Currents: The state of economics, New York 1984.
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