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Finanztheorie
I. Begriff: Finanztheorie ist die theoretisch-analytische Grundlage der Finanzwissenschaft zum einen im Hinblick auf ihr methodisches Vorgehen bei der Analyse von Umfang, Struktur und Inzidenz des öffentlichen Haushalts sowie zum andern im Hinblick auf die Verknüpfung der Budgettheorie (vgl. IV) mit den gesamtwirtschaftlichen Grundproblemen der Stabilisierung (von Preisen und Beschäftigung; Beschäftigungstheorie, Inflation), der Allokation (von knappen Gütern und Produktionsfaktoren samt den Wachstumskräften; Wohlfahrtsökonomik) und der Distribution (von Einkommen und Vermögen; Verteilungstheorie). - Die Finanztheorie berücksichtigt namentlich in ihrer Ausprägung als Budgettheorie, daß die öffentliche Finanzwirtschaft in den volkswirtschaftlichen Kreislauf eingebettet ist und kraft ihrer Anbieter- und Nachfragerpotenz an den Güter- und Faktormärkten (Anbieter von Arbeitsstellen, entgeltlichen Leistungen, Wertpapieren; Nachfrager von Kapital, Gütern und Diensten) das marktwirtschaftliche System zu einer "gemischten" Wirtschaft macht (Wirtschaftsordnung). Die Finanztheorie berücksichtigt ferner, daß die öffentliche Finanzwirtschaft als Gewährleister von Versorgung an öffentlichen Gütern sowie als Hoheitsträger von Besteuerungsakten und Transferzahlungen das politische System prägt. Die öffentliche Finanzwirtschaft ist somit eine "politische Wirtschaft".
II. Methodik: 1. Allgemein: Die Finanztheorie geht bei ihren Analysen der Wirkungsmöglichkeiten und Wirkungsweisen staatswirtschaftlicher Maßnahmen und Einrichtungen teils von normativen (z. B. wohlfahrtstheoretischen), teils von positiven Frageansätzen aus. - 2. Differentialanalyse: Auf unterschiedliche Akzeptanz stoßen finanztheoretische Methoden, wenn sie Wirkungsanalysen mit Hilfe der Differentialanalyse durchführen. Oft wird dieser Ansatz mit Blick auf die Realitätsferne solcher Ergebnisse als zu eng kritisiert, wenn z. B. die Wirkungen einer veränderten Einnahmestruktur unter Anwendung der ceteris paribus-Klausel analysiert werden, ohne simultane Feststellung und Beurteilung einer u. U. ebenfalls veränderten Ausgabenstruktur. Gleichwohl ist die ceteris paribus-Analyse mit Rücksicht auf die dadurch schärferen logischen Ergebnisse üblich. - 3. Individualistische Ausprägung der F.: Im übrigen ist die Finanztheorie wie auch die in den westlichen Ländern entwickelte allgemeine Wirtschaftstheorie individualistisch orientiert, wenngleich über das Angebot an öffentlichen Gütern wie auch über die zwangsweise Finanzierung dieses Angebots qua Steuern kollektiv entschieden wird. In ihrem grundlegenden Konzept geht die Finanztheorie davon aus, daß die ökonomischen Pläne und Handlungen auf Entscheidungen Einzelner beruhen und daß alle Austauschvorgänge von Faktoren und Gütern über Märkte geschehen. Erst wenn sich die Koordination der individuellen Einzelpläne über den Markt als unvollkommen oder als unmöglich erweist, wird auf die Koordination der Individualpläne in Kollektiven, insbes. im Staat, zurückgegriffen.
III. Angebot und Finanzierung der öffentlichen Güter: Entsprechend den Kollektivbedürfnissen werden Güter durch den Staat angeboten, a) sofern der Markt seine Allokationsfunktion nicht erfüllen kann oder soll, wenn (1) die (Mengen-) Versorgung als unzureichend oder nicht zielentsprechend angesehen wird, (2) der Preis keine Funktion haben soll (z. B. meritorische Güter) oder es keinen Preis gibt (weil bei öffentlichen Gütern das Ausschlußprinzip des Preises nicht gilt), (3) externe Effekte vorliegen und nach einem Mechanismus zur Internalisierung dieser Effekte gesucht wird; - b) sofern der Markt an die Grenzen der Distributionsfunktion stößt, weil die Vorstellungen in den politischen Kollektiven über die personelle Einkommensverteilung sich nicht mit den Verteilungsergebnissen aus dem anonymen Marktgeschehen (primäre Einkommensverteilung) decken; - c) sofern der Markt die Stabilisierungsfunktion in Krisenlagen wegen fehlender oder nur verzögert wirksam werdender Selbstheilungskräfte (Marktversagen) nicht erfüllen kann. - d) Dem kollektiven Angebot bestimmter Versorgungsgüter und deren kollektivem Verzehr entspricht auch die kollektive (Zwangs-) Finanzierung (über Steuern), weil jeder Einzelne, könnte er jederzeit mit einem kollektiven Angebot unteilbarer öffentlicher Güter rechnen, seine Präferenzen für sie nicht zu offenbaren brauchte (Problem des free rider- oder Free-rider-Verhaltens), und es somit keine Möglichkeit gäbe, freiwillig zu zahlende, preisähnliche Entgelte für Staatsleistungen zu finden.
IV. Budgettheorie: In verschiedenen Ansätzen versucht die Budgettheorie ein in Struktur und Volumen optimales Budget zu bestimmen. Da individuelle Präferenzen nicht vorliegen, konstruiert man soziale Wohlfahrtsfunktionen (Wohlfahrtstheorie), die (in theoretisch anfechtbarer Weise) auf Annahmen über Individualpräferenzen und -zielen beruhen und unterstellen, die Individualnutzen ließen sich in Zahlenwerten ausdrücken und zu einer Gesamtfunktion addieren. Die bekanntesten Ansätze sind das wohlfahrtstheoretische Modell von Samuelson und Musgrave, die Einstimmigkeitsregeln von Wicksell und das Modell der Mehrheitswahl von Arrow. Die tatsächlichen Nutzen- und Belastungswirkungen sind aber nur durch empirische Budgetinzidenzanalysen aufzufinden. Dabei läßt sich die Budgetinzidenz methodisch nur durch eine Aufspaltung in die Ausgaben- und die Steuerinzidenz lösen, wobei die genauen Wirkungsverläufe und Inzidenzlagen in den Lehrstoff der allgemeinen Finanzwissenschaft gehören. Eine Abgrenzung ist hier nicht immer eindeutig zu treffen.
V. Ausgabentheorie: 1. Die Theorie der Staatsausgaben (öffentliche Ausgaben) wird bewußt ohne die für eine Gesamtbeurteilung der Budgetwirkungen notwendige Verbindung mit der Theorie der Staatseinnahmen entwickelt, um unter Beachtung der ceteris paribus-Klausel zu Aussagen über die Wirkungsabläufe und Inzidenz von Staatsausgaben zu kommen, seien es allokative Wirkungen (wie solche auf die Produktion, das Wachstum, die Sektoren und Regionen der Wirtschaft), seien es distributive Wirkungen (die je nach dem Ausgabenempfänger bzw. je nach Nutznießer von öffentlichen Gütern gruppenspezifisch unterschiedlich auftreten) oder seien es stabilisierende Wirkungen (vgl. Staatsausgabenmultiplikator, Transfermultiplikator). - 2. Über den Einsatz von Staatsausgaben für bestimmte wirtschaftspolitische Ziele unterrichtet die Theorie der Finanzpolitik.
VI. Einnahmentheorie: Ebenso wird die Theorie der öffentlichen Einnahmen (die Lehre von den Gebühren und Beiträgen, die Steuertheorie und die Theorie der öffentlichen Verschuldung) getrennt von der Staatsausgabentheorie entwickelt. Sie ist das zweite wichtige Lehrgebiet der Finanzwissenschaft. Über den zielorientierten Einsatz der steuerlichen Instrumente unterrichtet die Finanzpolitik. - 1. Steuertheorie: Eine eher steuertheoretische Frage von zunehmender Bedeutung ist, ob und wie angesichts vermehrter Staatsaufgaben vor dem Hintergrund steigender Belastungen durch eine die Leistungsfähigkeit des Einzelnen berührende direkte Besteuerung die allokativen Nachteile einer Leistungslähmung zu mildern und statt dessen eine Expansion der Gebühren- und Beitragshaushalte aus dem Äquivalenzprinzip heraus zu betreiben sei. - 2. Steuersystemtheorie: Gleichzeitig wird diskutiert, wie die direkte Besteuerung mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zu ergänzen sei, ohne daß Distributionsnachteile wegen der ihr innewohnenden Regressivität in Kauf genommen werden müssen. - In systemtheoretischem Zusammenhang wird auch diskutiert, inwieweit ein Einkommensteuersystem (Berücksichtigung der persönlichen Leistungsfähigkeit, Besteuerung der Einkommensentstehung) durch ein Ausgabensteuersystem (Besteuerung der Einkommensverwendung) abzulösen sei, um die negativen Wirkungen der Einkommensbesteuerung zu vermeiden. - Auch die Theorie der optimalen Besteuerung ("optimal taxation") ist hier anzusiedeln, da sie danach fragt, welches System an (allgemeinen oder speziellen) Verbrauchsteuern die allgemeine Wohlfahrt am wenigsten beeinträchtigt. - Von diesen eher speziellen Problemen abgesehen, befaßt sich die Steuersystemtheorie grundsätzlich mit der Kompatibilität des Steuersystems mit dem Wirtschaftssystem.
VII. Theorie der Staatsschulden: Von jeher gehört die Frage, ob eine höhere Staatsquote durch Steuern oder Anleihen zu finanzieren sei, zu den grundsätzlichen theoretischen Fragen (öffentliche Kreditaufnahme, Last der Staatsverschuldung). Spricht eine Vermehrung der zukunftswirksamen öffentlichen Strukturinvestitionen zunächst für eine Anleihefinanzierung (vgl. auch pay-as-you-use-Prinzip, rentabilitätsorientierte Rechtfertigung der Staatsverschuldung), so sind aber je nach dem Auslastungsgrad des Produktionspotentials und je nach den wirtschaftspolitischen Zielen die stabilisierenden, allokativen und distributiven Effekte, die die beiden alternativen Finanzierungsweisen haben können, unterschiedlich und nur mit Hilfe der Differentialinzidenzmethode festzustellen. - Allgemein ist bei ausgelastetem Produktionspotential die höhere Staatsquote nur auf Kosten der privaten Investitionen und Konsumausgaben möglich ("crowding out"). (1) Eine Steuerfinanzierung würde je nach der zu wählenden Steuerart entweder eine Einbuße an privaten Investitionen und damit an Wachstum (im Falle der Gewinnbesteuerung) bedeuten oder Verteilungsnachteile (im Falle der Verbrauchsbesteuerung) haben. (2) Demgegenüber läßt sich bei der Kreditfinanzierung hinsichtlich der Verteilungswirkungen kein Nachteil feststellen (Gandenberger-These), doch würden sich die im Zuge der Zinssteigerungen zu erwartenden Wachstumsverluste nach einem längeren oder kürzeren Zeitablauf wegen der Umwegsrentabilität und des längeren Reifeprozesses der öffentlichen Investitionen evtl. wettmachen lassen. - Vgl. auch Finanzpolitik, Finanzwissenschaft.
Literatur: Arrow, K. J., Social Choice and Individual Values, New York 1951; Buchanan, J. M./Flowers, M. R., The Public Finances. An Introductory Textbook, 1975; Kirsch, G., Neue politische Ökonomie, 2. Aufl., Düsseldorf 1983; Littmann, K., Problemstellung und Methoden der heutigen Finanzwissenschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Aufl., Bd. I, Tübingen 1975; Mackscheidt, K., Zur Theorie des optimalen Budgets, 1973; Musgrave, R. A./Musgrave, P. B./Kullmer, L., Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, 3. Aufl., 1984 ff.; Musgrave, R. A./Musgrave, P. B., Public Finance in Theory and Practice, 4. Aufl., Tokyo u. a. 1984; Samuelson, P. A., Diagrammatic Exposition of a Theory of Public Expenditure, Review of Economics and Statistics, Bd. 37 (1955); Wicksell, K., Finanztheoretische Untersuchungen, Jena 1896; Glastetter, W. u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft, 2. Aufl., Wiesbaden 1980; Zimmermann, H./Henke, K.-D., Finanzwissenschaft. Eine Einführung in die Lehre von der öffentlichen Wirtschaft, 4. Aufl., München 1985.
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