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Wohlfahrtsökonomik

1. Begriff: Teilgebiet der Volkswirtschaftstheorie, das aus den Ansätzen zur Entwicklung und Beurteilung von Wohlfahrtskriterien, mit denen ein gesellschaftliches Wohlfahrtsoptimum abgeleitet werden soll, besteht. Dazu greift die Wohlfahrtsökonomik auf den Erkenntnisstand der Mikroökonomik zurück. - Die Wohlfahrtsökonomik bietet eine theoretisch umfassende Begründung für den wohlfahrtssteigernden Einsatz wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Entschieden werden muß, wie mit den volkswirtschaftlich knappen Mitteln gewirtschaftet werden soll, damit eine Versorgung erreicht wird, die von den Gesellschaftsmitgliedern als bestmöglich beurteilt wird. Die Wohlfahrtsökonomik erweitert die Perspektive der individuellen Nutzenbetrachtung dadurch, daß sie Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe alternative gesellschaftliche Zustände sowie wirtschaftspolitische Maßnahmen bzgl. ihres Wohlfahrtsgehaltes beurteilt werden (Pareto-Optimum; Theorie des Zweitbesten; Theorie des Marktversagens; Fundamentalsätze der Wohlfahrtsökonomik). - 2. Erkenntnisziele: Die Aufgabe der Wohlfahrtsökonomik als positive Theorie, die ihre normativ vorgegebenen Ziele im Sinne der angestrebten Wertfreiheit als exogen gegeben betrachtet, besteht in der Entwicklung von Beurteilungskriterien für wirtschaftspolitische Maßnahmen, Situationen und Ordnungssysteme. - In diesem Zusammenhang ist zunächst der Begriff Wohlfahrt zu definieren, bevor die Frage nach der Ermittlung des Wohlfahrtsoptimums gestellt werden kann. - Um das Wohlfahrtsoptimum abzuleiten, sind modelltheoretisch zunächst zwei Grundfragen zu klären: (1) Produktionstechnisches Allokationsproblem: Klärung der verfügbaren Produktionsfaktoren sowie ihrer produktionstechnisch bedingten Kombinationsmöglichkeiten; (2) Bewertungsproblem: Klärung der verwendeten Bewertungsregeln, d. h. der verwendeten Wohlfahrtskriterien bzw. Wohlfahrtsfunktionen. - Sind die Grundfragen beantwortet, so impliziert die Anwendung des Rationalitätsprinzips formal eine Maximierung der Wohlfahrt unter Nebenbedingungen. - Erklärungsziele der Wohlfahrtsökonomik sind kurz zusammengefaßt: (1) Definition des Begriffs Wohlfahrt; (2) Bereitstellung eines theoretischen Apparates zur Ermittlung des Wohlfahrtsoptimums; (3) Einordnung der wohlfahrtstheoretischen Untersuchungen als "positive" Theorie, d. h. Anstreben der Wertfreiheit. - 3. Entwicklung der W.: a) Traditionelle W.: Die von A. C. Pigou und A. Marshall geprägte traditionelle Wohlfahrtsökonomik basiert auf dem ethischen Postulat, daß die kollektive Wohlfahrt W in Abhängigkeit von den in Nutzeneinheiten definierten individuellen Wohlfahrten wi der n Gesellschaftsmitglieder formuliert werden kann, d. h.

Die Formulierung einer entsprechenden Wohlfahrtsfunktion setzt die Möglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche sowie der Aggregierbarkeit der Nutzeneinheiten voraus. - Pigou und Marshall gehen von der kardinalen Meßbarkeit individueller Nutzen aus. (1) Marshall verwendet die Konzeption der Konsumentenrente für seine partialanalytische Herleitung des Wohlfahrtsoptimums. Unter der Annahme konstanter sowie individuell gleicher Grenznutzen des Geldes, d. h. interpersoneller Vergleichbarkeit der Nutzengrößen, werden die Konsumentenrenten als in Geld gemessene Nutzenüberschüsse erfaßt und addiert. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, die Summe der Konsumentenrenten zu erhöhen, indem ceteris paribus Branchen mit abnehmenden Grenzerlös besteuert und Branchen mit steigenden Grenzerträgen entsprechend subventioniert werden. (2) Pigou verwendet zwei Kriterien für die Steigerung der Wohlfahrt: Zum einen die Nettosozialproduktzunahme bei konstantem Faktoreinsatz sowie zum anderen die Umverteilung der Einkommen der "Reichen" an die "Armen" bis der Grenznutzen der Realeinkommen für alle Gesellschaftsmitglieder gleich ist. Besonderes Augenmerk gilt den externen Effekten als möglichen Verursachern von Wohlfahrtsverlusten. Positive externe Effekte, d. h. die positive Differenz zwischen sozialen und privaten Nettogrenzproduktivitäten sollen durch Subventionierung des Faktoreinsatzes und negative externe Effekte mittels einer entsprechenden Besteuerung internalisiert werden (Pigou-Steuer). - b) Neuere W.: Vertreter sind vor allem V. Pareto, N. Kaldor, J. R. Hicks, I. M. D. Little, T. Scitovsky, K. E. Boulding und P. A. Samuelson. - In der neueren Wohlfahrtsökonomik wird i. d. R. die Möglichkeit der kardinalen sowie interpersonell vergleichbaren Nutzenmessung abgelehnt. Die paretianische Wohlfahrtsökonomik arbeitet mit einem ordinalen Nutzenmaßstab, der von der individuellen Vergleichbarkeit alternativer Güterbündel i. S. v. "besser", "schlechter" oder "indifferent" ausgeht (Nutzentheorie). Zur Feststellung des Wohlfahrtsoptimums werden verschiedene Wohlfahrtskriterien sowie Wohlfahrtsfunktionen entwickelt. - 4. Beurteilung der W.: Die Wohlfahrtsökonomik übersieht bei der Formulierung ihres gesellschaftspolitischen Leitbildes, daß Alternativlösungen zur Marktkoordination nicht kostenlos sind. Die fehlende Berücksichtigung des institutionellen Rahmens sowie die Formulierung idealer, pareto-optimaler Markt-, aber nicht Staatskriterien (Marktversagen, sowie Theorie des Zweitbesten) haben der Wohlfahrtsökonomik den Vorwurf des "Nirwana-Ansatzes" eingebracht. - Innerhalb des statischen Ansatzes der Wohlfahrtsökonomik wird die Verteilungsfrage zugunsten der Frage der optimalen Allokation zudem vernachlässigt. - Der Wohlfahrtsökonomik ist es darüber hinaus nicht gelungen, eine eindeutige Definition für die Wohlfahrt zu formulieren. So steht und fällt die Beurteilung ihrer Aussagekraft vor dem Hintergrund der verwendeten utilitaristischen Ethik (Wirtschaftsethik) mit der Beurteilung der Prämisse, daß eine bessere individuelle Güterversorgung einen höheren Nutzen stiftet. - Als wirtschaftspolitische Anwendung und Weiterentwicklung der mikroökonomischen Gleichgewichtstheorie verwendet die auch als "Theorie im sozialen Vakuum" bezeichnete Wohlfahrtsökonomik zur Ableitung des Wohlfahrtsoptimums ein ex ante Wissen, das in komplexen, sich rasch wandelnden Gesellschaften nicht zur Verfügung steht. Die hier vollendete Trennung der ökonomischen Theorie von Raum und Zeit verringert die Anwendbarkeit der Wohlfahrtsökonomik auf konkrete gesellschaftspolitische Probleme.


Literatur: Boulding, K., Einführung in die Wohlfahrtsökonomik, in: Gäfgen, G. (Hrsg.), Grundlagen der Wirtschaftspolitik, 4. Auflage, Köln 1972; Cordato, R. E., Welfare Economics and Externalities in an Open Ended Universe: A Modern Austrian Perspective, Boston u. a. 1992; Krüsselberg, H. G., Marktwirtschaft und Ökonomische Theorie, Freiburg 1969; Krüsselberg, H. G., Property-Rights-Theorie und Wohlfahrtsökonomik, in: Schüller, A. (Hrsg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983; Külp, B., Wohlfahrtsökonomik I: Die Wohlfahrtskriterien, 2. Auflage, Tübingen u. a. 1984; Külp, B., Wohlfahrtsökonomik I: Grundlagen, in: HdWW, Bd. 9, Stuttgart u. a. 1982, S. 469-486; Rothschild, K. W., Ethik und Wirtschaftstheorie, Tübingen 1992; Schumann, J., Wohlfahrtsökonomik, in: Issing, O. (Hrsg.), Geschichte der Nationalökonomie, 3. Auflage, München 1994.

 

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