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Volkswirtschaftstheorie
Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Nationalökonomik.
I. Begriff: Volkswirtschaftstheorie ist eine zusammenfassende Bezeichnung für einzelne Gebiete der Wirtschaftswissenschaften, deren Erkenntnisobjekt generell wirtschaftliche Vorgänge und Zusammenhänge sind. - Abgrenzung: Die Ansichten über die Weite des Begriffs weichen voneinander ab. So ist im deutschsprachigen Raum - anders als im angelsächsischen Sprachgebrauch - die Volkswirtschaftstheorie neben der Betriebswirtschaftslehre Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften. Weitere Teilgebiete sind z. B. die Wirtschaftsgeschichte und die Wirtschaftsgeographie. Unterteilt man die Wirtschaftswissenschaften in Real- und Formalwissenschaften - eine von vielen möglichen Unterscheidungen - so gehört die Volkswirtschaftstheorie unstreitig zu den Realwissenschaften. Realwissenschaften - wie die Natur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften - informieren über Erfahrungen mit der Wirklichkeit. Formalwissenschaften - wie die Logik, "reine" Mathematik und Methodologie - bieten Denkformen und Verfahrensregeln, die häufig der Erkenntnisgewinnung in den Realwissenschaften dienen. Die Volkswirtschaftstheorie ist, wie die Wirtschaftswissenschaften insgesamt, ein Teil der Sozialwissenschaften (Erkenntnisobjekt: soziale Wirklichkeit), zu der man u. a. die Soziologie, Sozialpsychologie und Politikwissenschaft rechnet.
II. Gegenstand: Die Aussage, Erkenntnisobjekt der Volkswirtschaftstheorie seien wirtschaftliche Vorgänge und Zusammenhänge, ist abstrakt und vage. Deshalb gibt es zahlreiche Versuche mit dem Ziel, konkreter zu fassen, womit sich die Volkswirtschaftstheorie beschäftigt. - 1. Ein erster und der wohl am meisten beschrittene Weg zur Konkretisierung sind mehr oder weniger umfangreiche Definitionen des Objekts der Volkswirtschaftstheorie Die große Anzahl an Versuchen aber zeigt, daß dieser Weg nicht befriedigt. Der Grund dafür sei anhand eines Beispiels demonstriert. Im millionenfach verbreiteten Lehrbuch von Samuelson heißt es, "Volkswirtschaftstheorie ist die Wissenschaft der Entscheidungen von Menschen und der Gesellschaft, wie knappe Produktionsmittel alternativer Verwendbarkeit - mit oder ohne den Gebrauch des Geldes - für die Produktion bestimmter Güter verwendet und wie diese für den gegenwärtigen oder zukünftigen Konsum zwischen verschiedenen Individuen und Gesellschaftsgruppen verteilt werden. Sie untersucht die Kosten und Vorteile einer Verbesserung der Produktionsmittelverwendung". Wer wissen möchte, was die Volkswirtschaftstheorie ausmacht, dem ist mit einer solchen und ähnlichen Definitionen nicht viel geholfen. Angesichts der großen Zahl von Definitionsversuchen kann man der resignierenden, wenn auch übertreibenden Schlußfolgerung nur zustimmen: Volkswirtschaftstheorie ist das, was Wirtschaftswissenschaftler tun. - 2. Ein zweiter Weg zur Konkretisierung sind mehr oder weniger systematische Beschreibungen des Objekts der Volkswirtschaftstheorie Am Beginn dieses Weges stehen Fragen zu Problemen des Faches. Der deutsche Nationalökonom Eucken hat alle Fragen - mit fünf "W-Wörtern" - so zusammengefaßt: Was wird wofür, wann, wie und wo produziert? Diese Kurzfassung verdeutlicht Fachunkundigen allerdings nicht hinreichend, womit sich die Volkswirtschaftstheorie befaßt. Deshalb werden in der Übersicht die Gebiete der Volkswirtschaftstheorie durch jeweils zentrale Fragen erschlossen, wobei die Gesamtheit der Gebiete das Erkenntnisobjekt des Faches umschreibt. - a) Fragestellung der Teilgebiete und Abgrenzung: Erstens versteht es sich, daß man die Fragen auch anders stellen kann; die Formulierungen der Fragen in der Übersicht dienen allein dem Zweck, die zentralen Probleme jener Gebiete zu umreißen, die nach dem vorherrschenden Verständnis zur Volkswirtschaftstheorie gehören. Zweitens ist es möglich, neue Gebiete oder solche kleineren Zuschnitts in gleicher Weise zu erschließen; beispielsweise ist die Entwicklungstheorie im Kern mit der Frage befaßt, warum sich die Volkswirtschaften unterschiedlich entwickeln. - b) Mikro- und Makroökonomik: Im Schrifttum werden die Gebiete 1 bis 4 als Mikroökonomik, die Gebiete 5 bis 10 als Makroökonomik bezeichnet. In der Mikroökonomik werden einzelwirtschaftliche Fragen (der Haushalte und Unternehmen sowie ihre Abstimmung am Markt), in der Makroökonomik gesamtwirtschaftliche Sachverhalte analysiert. Wie häufig bei Oberbegriffen ist diese Zusammenfassung zwar vereinfachend, aber auch problematisch, weil es Gebiete gibt, die mikro- und makroökonomische Aspekte haben (z. B. Verteilungstheorie, Außenhandelstheorie). Aus diesem Grund hat das Begriffspaar mehr eine didaktische Bedeutung; in der Forschung spielt es eine untergeordnete Rolle. - c) Zur Stellung der Betriebswirtschaftslehre: Anhand der Übersicht wird auch deutlich, daß die Betriebswirtschaftslehre (Gebiete 2 und 3) wissenschaftssystematisch ein Teil der Volkswirtschaftstheorie ist, was für die Identität von "Economics" im angelsächsischen Verständnis und Volkswirtschaftslehre spricht. Unbestritten gehört zu den wesentlichen Teilen der Volkswirtschaftstheorie auch die Theorie der Unternehmen und des Marktes, also das Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre. Wenn sich die Betriebswirtschaftslehre im deutschsprachigen Raum gleichwohl zu einer selbständigen Disziplin entwickelt hat, so wegen einer Reihe historischer Gründe, denen nicht nachgegangen sei. Zwar gab und gibt es Versuche, die wissenschaftssystematische Einheit auch in der Ausbildungspraxis herzustellen, z. B. in der Ersetzung der Studienabschlüsse Diplom-Volkswirt und Diplom-Kaufmann durch Diplom-Ökonom. Ein durchschlagender Erfolg ist solchen Versuchen, die eine inhaltliche Integration im Lehrbetrieb voraussetzen, bisher versagt geblieben.
III. Dogmengeschichte: 1. Die Volkswirtschaftstheorie ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Zwar lassen sich schon bei Philosophen des Altertums - wie Aristoteles - wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen ausfindig machen, ebenso bei Theologen des Mittelalters, vor allem bei Thomas von Aquin. - 2. Zu einer systematischen Behandlung wirtschaftswissenschaftlicher Fragen kommt es jedoch erst in der Neuzeit, mit dem Aufkommen der Nationalstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Die erste gesamtwirtschaftliche Betrachtung stammt von Quesnay, der in seinem "Tableau économique" den wirtschaftlichen Kreislauf schematisiert. Die Grundlagen der heutigen Volkswirtschaftstheorie legte Smith in seinem Hauptwerk "Wealth of Nations". Alle späteren Autoren fußten auf Smith, haben sein System in einigen Details korrigiert oder um wichtige Aspekte erweitert, aber nicht revolutioniert, auch wenn dies immer wieder behauptet oder in Anspruch genommen worden ist. Die Volkswirtschaftstheorie von Smith ist im 19. Jahrhundert zur klassischen Theorie ausgebaut und verfeinert worden, insbes. von Ricardo, Malthus und John Stuart Mill (klassische Lehre). In dieser Tradition steht auch die Analyse von Marx, der seine Arbeitswertlehre von den Klassikern übernahm und dessen unhaltbare Prognosen von der Volkswirtschaftstheorie nicht gedeckt sind. - Regionale Verbreitung: Die Volkswirtschaftstheorie der englischen Klassiker griff auf den Kontinent über und fand in Frankreich ebenso Anhänger (z. B. Say und Bastiat) wie in deutschsprachigen Ländern (z. B. Thünen, Rau und Hermann). In diesen gewann ab 1850 indessen die historische Schule maßgeblichen Einfluß - mit Ausnahme von Österreich - der etwa hundert Jahre andauerte. Die deutsche Sonderentwicklung hat sich als Irrweg, in ihren wissenschaftlichen Ergebnissen als international bedeutungslos erwiesen. - Die klassische Lehre hatte einen ersten Schwerpunkt in der Angebotstheorie (Angebotsökonomik), einen zweiten in der Mikroökonomik. Beide sind in der Folgezeit korrigiert worden. Um 1870 entwickelte sich - zeitgleich, aber unabhängig voneinander - in Wien (Menger), Cambridge (Jevons, Marshall) und Lausanne (Walras) die subjektive Wertlehre der Neoklassik, die eine theoretisch konsistente Angebots- und Nachfragetheorie ermöglichte. - 3. Zur makroökonomischen Abrundung der klassischen Volkswirtschaftstheorie haben vor allem Ökonomen dieses Jahrhunderts beigetragen, zum geldtheoretischen Ausbau Fisher und Friedman, zur Analyse der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Keynes (Keynesianismus). Neuere Entwicklungen haben die Methoden verbessert (Aktivitätsanalyse, Ökonometrie) oder alternative Sichtweisen eingeführt (Spieltheorie), den traditionellen Bestand der Volkswirtschaftstheorie jedoch unverändert gelassen. Die auffälligste Änderung der letzten Jahrzehnte ist, daß in der Volkswirtschaftstheorie die mathematische Ausdrucksweise erheblich zugenommen hat.
IVolkswirtschaftstheorie Methodik: 1. Begriff: Die Methodik ist die Bezeichnung für Erkenntnisverfahren, mit denen ein Fach in die Lage versetzt wird, wissenschaftliche Aussagen zu treffen. Nach dem traditionellen und herrschenden Wissenschaftsverständnis sollen Aussagen der Wissenschaft objektiv - d. h. frei von persönlichen Meinungen - und intersubjektiv überprüfbar - d. h. logisch nachvollziehbar und empirisch testbar - sein. Daß eine Wissenschaft so verfahren kann, ist unstreitig und nachweisbar; daß sie so verfahren soll, wird von einer Minderheit bekämpft. - 2. Abgrenzung zwischen Volkswirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik: In der Volkswirtschaftstheorie entzündet sich der Streit häufig an der letztlich unnützen Unterscheidung zwischen Volkswirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik. Dabei hätten sich verbreitete Mißverständnisse vermeiden lassen, wenn - entsprechend der Vorgehensweise in anderen Disziplinen - sprachlich stärker zwischen "reiner" und "angewandter" Volkswirtschaftstheorie differenziert worden wäre. Die Volkswirtschaftstheorie ist ein System genereller Aussagen (Modelle) die Erkenntnisse und Kausal- bzw. Ursache-Wirkungszusammenhänge vermitteln. Die Wirtschaftspolitik greift solche Erkenntnisse in der praktischen Anwendung, bei der Verfolgung bestimmter Ziele, auf (Final- bzw. Zweck-Mittelzusammenhänge). Mit anderen Worten: In der Anwendung benutzt man den von der Volkswirtschaftstheorie bereitgestellten Werkzeugkasten, muß aber auch, wenn bestimmte Werkzeuge fehlen, diese erst erstellen. Die theoretische Wirtschaftspolitik unterscheidet sich insofern von der Volkswirtschaftstheorie in den Motiven oder Verwendungsabsichten bei der Erkenntnisgewinnung, nicht im Verfahren selbst. - 3. Erkenntnisverfahren: Folgt man der herrschenden Ansicht, nach der die Volkswirtschaftstheorie ein System von meinungsfreien und überprüfbaren Aussagen sein soll - dieses Wissenschaftsverständnis basiert, wie ohne weiteres einleuchtet und in der normativen Ausdrucksweise angezeigt wird, auf einem Werturteil - so sind die Erkenntnisverfahren vorgezeichnet. Gemeinsames Merkmal dieser Verfahren ist: Hypothesen (umgangssprachlich: Behauptungen) - basierend auf Einbildungen, Einsichten oder Erfahrungen (u. a. von Beobachtungen) - werden empirisch, in der Regel ökonometrisch, geprüft. Ist diese Prüfung nicht negativ, werden Hypothesen bis zu ihrer Widerlegung akzeptiert. Endgültige Wahrheiten existieren nicht, weil jeder Wissensstand verbesserungsfähig ist. Das Erkenntnisverfahren wird als Prozeß verstanden, mit dem wir unser Wissen fortlaufend vervollkommnen, der "Wahrheit" annähern, ohne sie jemals zu erreichen (kritischer Rationalismus). - 4. Würdigung der V.: Auf der Linie dieses Erkenntnisverfahrens hat die V., vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, eine stetige Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. Das Fach konnte sein generelles Ansehen und seinen Einfluß auf die Politik erheblich steigern. Bei privat geführten Unternehmen und Verbänden, mehr aber noch bei Regierungen, ist der Rat professioneller Nationalökonomen gesucht. Diese haben freilich verständlichen Versuchen, endgültige Rezepte zu liefern - die nach dem skizzierten Wissenschaftsverständnis nicht möglich sind - zu sehr nachgegeben und damit der Enttäuschung über Volkswirtschaftstheorie Vorschub geleistet. Für die künftige Entwicklung und Bedeutung dürfte entscheidend sein, ob die empirischen Prüfverfahren eindeutiger als bisher ausgestaltet werden können und inwieweit man die Begrenztheit des volkswirtschaftlichen Wissens nicht nur methodologisch anerkennt, sondern auch in der praktischen Anwendung berücksichtigt.
Literatur: A. Einführungsbücher: Bartling, H./Luzius, F., Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Einführung in die Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, 9. Aufl., München 1992; Brandt, K., Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1973; Hardes, H.-D. u. a., Volkswirtschaftslehre, 17. Aufl., Tübingen 1990; Henrichsmeyer, W./Gans, O., Evers, I., Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 8. Aufl., Stuttgart 1988; Preiser, E., Nationalökonomie heute. Eine Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 15. Aufl., München 1992. - B. Lehrbücher: Samuelson, P. A., Volkswirtschaftslehre, 2 Bde., 8. Aufl., Köln 1987; Woll, A., Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 11. Aufl., München 1993.
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