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Neue Institutionenökonomik

1. Begriff und Einordnung: Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) befaßt sich mit Entstehen und Funktion von Institutionen in Ökonomien und mit deren Wandel im Zeitablauf. Dabei sind unter Institutionen Normen zu verstehen, die als Randbedingungen auf das Sozialverhalten der Individuen einwirken. Zu den so verstandenen Institutionen gehören einmal formlose Beschränkungen wie Sitten und Gebräuche, formgebundene Regelungen wie Gesetze, Eigentumsrechte oder Verträge sowie Instrumente, die zur Durchsetzung institutioneller Vorgaben eingesetzt werden können (z. B. Austausch von Sicherungsleistungen oder glaubhafte Zusicherungen). Institutionen sind entweder das nicht bewußt herbeigeführte und schwer zu beeinflussende Resultat kultureller Evolution oder das Ergebnis von Gestaltungswillen. - Der Begriff der NIÖ, unter dem verschiedene Ansätze der Analyse von Institutionen zu einer Forschungsrichtung zusammengefaßt werden, wurde im Jahre 1975 von Williamson geprägt. Die NIÖ erkennt im Gegensatz zum amerikanischen Institutionalismus die Leistungen der Neoklassik an und baut auf ihnen auf. So wird das Konzept des methodologischen Individualismus von der neoklassischen Theorie übernommen. Den Individuen wird grundsätzlich rationales Verhalten unterstellt (entweder als vollkommene Rationalität oder in der abgeschwächten Form der begrenzten Rationalität). North geht über diese Annahmen hinaus und weist mentalen Konstrukten wie den Ideologien eine wichtige Rolle zu, die keine rationale Funktion haben müssen und zu persistenten Fehlentwicklungen führen können. Die NIÖ strebt eine Weiterentwicklung der technologisch orientierten neoklassischen Theorie an, weil diese die Institutionen vollkommen vernachlässigt und sich damit im "ökonomischen Nirwana" (Demsetz) bewegt. Obwohl die Notwendigkeit einer Analyse der Institutionen bereits von den amerikanischen Institutionalisten und von der Historischen Schule in Deutschland erkannt wurde - deren Problem in ihrer Theorielosigkeit bestand -, gelang erst der NIÖ die Integration institutioneller Fragestellungen in die ökonomische Theorie. - 2. Untersuchungsgegenstand: Im Gegensatz zur neoklassischen Theorie berücksichtigt die NIÖ neben den Produktionskosten auch die Transaktionskosten wirtschaftlichen Handelns. Ohne Transaktionskosten bedürfte es keiner Institutionen, da sich die wirtschaftlichen Akteure jederzeit und kostenlos an neu entstehende Konstellationen anpassen könnten (Coase-Theorem). Da wir es aber in der Realität mit erheblichen Transaktionskosten zu tun haben, kommt es für das wirtschaftliche Ergebnis auf Institutionen an, die deshalb explizit in die ökonomische Analyse einzugehen haben. a) Allgemeine Fragestellung der NIÖ: Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Institutionen einer Ökonomie und deren Leistungsfähigkeit? Interessante Erweiterungen der ökonomischen Theorie ergeben sich daraus, daß in der NIÖ die neoklassische Annahme der vollständigen Information aufgehoben ist. Bei asymmetrischer oder unvollständiger Information der Individuen können Institutionen dazu beitragen, vertragswidriges oder sonst unerbetenes Verhalten wirtschaftlicher Akteure (Opportunismus) bloßzustellen und einzuschränken. Verträge können zur Absicherung langfristiger Kooperationsbeziehungen und zur Milderung von Abhängigkeiten beitragen, die im Gefolge transaktionsspezifischer Investitionen entstehen. - b) Grundlegende Fragen der NIÖ: (1) Wie sind Verträge unter Effizienzgesichtspunkten zu gestalten? Neben Kontrakten als Grundlage der Beziehung zwischen Vertragspartnern werden in der NIÖ auch Organisationen analysiert, die als korporative Gebilde zu den gestaltbaren Institutionen gehören. Untersuchungsschwerpunkte sind die effiziente Firmengrenze und hybride Organisationsformen. (2) Wie sind Organisationen zweckmäßigerweise zu gestalten? (3) Welchen Einfluß haben institutionelle Rahmenbedingungen auf die Organisationen, und wie wirken wiederum Organisationen auf den institutionellen Rahmen zurück? - 3. Forschungsansätze: Die einzelnen Forschungszweige der NIÖ sind durch unterschiedliche Betrachtungsweisen geprägt. a) In der property rights-Theorie (Verfügungsrechte) wird der Einfluß der Verteilung von Verfügungsrechten auf das Entscheidungsverhalten wirtschaftlicher Akteure analysiert. - b) Die Wirkung institutioneller Rahmenbedingungen auf Gruppen von Individuen untersucht die public choice-Theorie. Dieser werden sowohl die Neue Politische Ökonomie als auch die Constitutional Economics zugerechnet. - c) Die agency-Theorie befaßt sich mit der Gestaltung effizienter Anreizsysteme in der Vorvertragsphase. Dabei wird von einer asymmetrischen Informationsverteilung zwischen den Akteuren ausgegangen (Informationsasymmetrie). Durch die Formulierung geeigneter Anreize soll ex ante sichergestellt werden, daß ein entscheidungsberechtigter Agent (z. B. der Manager eines Unternehmens) seinen Informationsvorsprung nicht zu Lasten des schlechter informierten Principals (z. B. des Unternehmenseigentümers) ausnutzt. - d) Im Gegensatz zur agency-Theorie liegt der Analyseschwerpunkt der Transaktionskostenökonomik auf der Durchsetzung und Anpassung von Kontrakten in der Nachvertragsphase. Hier wird unvollständige Information und begrenzte Rationalität der Akteure vorausgesetzt. Da Verträge in der Regel nicht erschöpfend allen Eventualiutäten gerecht werden können, müssen sie so gestaltet werden, daß ex post eine flexible Anpassung an geänderte Umweltbedingungen zu geringen Kosten möglich ist. - e) Neben den vier genannten Zweigen kann auch der Law and Economics-Ansatz der NIÖ zugeordnet werden, der sich auf die ökonomische Analyse des Rechts konzentriert. Der historischen Erforschung des institutionellen Wandels widmet sich die New Economic History. Ansätze, die die Bedeutung von Informationen in den Vordergrund stellen, werden unter dem Begriff Informationsökonomik zusammengefaßt. Die einzelnen Forschungsansätze haben sich relativ isoliert voneinander entwickelt. Sie stehen in einer komplementären Beziehung zueinander, sind jedoch nicht ohne inhaltliche Überschneidungen. - 4. Ökonomischer Erklärungsbeitrag: a) Institutionen ermöglichen eine Reduktion der Unsicherheit wirtschaftlicher Akteure, indem sie individuelle Handlungsspielräume einschränken und so zu einer Stabilisierung der Erwartungen beitragen (z. B. Traditionen). - b) Institutionen können aber auch umgekehrt dazu dienen, individuelle Handlungsspielräume zu erweitern, was die Flexibilität erhöht (z. B. Geld). Eine Steigerung der Effizienz von Institutionen führt dazu, daß die Kosten wirtschaftlicher Transaktionen gesenkt werden. - c) Historische Abhängigkeiten: In der Literatur wird die NIÖ gelegentlich mit dem Argument kritisiert, eine Ermittlung optimaler Institutionen sei angesichts der begrenzten Rationalität der Wirtschaftsubjekte nicht möglich. Aber Institutionen sind nur zu einem Teil rational planbar, während sie zum anderen Teil historisch evolvieren. Der Prozeß des institutionellen Wandels ist "pfadabhängig" (North); er setzt sich aus unzähligen Einzelschritten zusammen, wobei zufällige Konstellationen den Ausschlag geben können. Deswegen sind Institutionen auch historisch bedingt, und zu ihrem Verständnis kommt es nicht zuletzt auf das Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge an. - d) Die NIÖ stellt Denkkategorien bereit, mit deren Hilfe solche Prozesse theoretisch erschlossen werden können. Das beginnt mit der Prüfung sehr elementarer Zusammenhänge. So steht am Anfang der NIÖ die einfache Frage, wieso es eigentlich Unternehmen gibt, Inseln der Hierarchie gewissermaßen in einem Meer von Verträgen, die im Rahmen des Marktes geschlossen werden. In seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1937 fand Coase heraus, daß hierfür Transaktionskostenvorteile verantwortlich sind, die bis zu einer bestimmten Unternehmensgröße durch die Zusammenfassung von Transaktionen in einer Hierarchie realisiert werden können. North unterscheidet zwischen Institutionen - bildhaft als Spielregeln aufzufassen - und Organisationen - gewissermaßen den Spielern -, und konnte so die Frage beantworten, warum Ineffizienz in vielen Ökonomien persistent ist. In leistungsschwachen Ökonomien bilden sich Organisationen heraus, die Nutzen aus institutionellen Rahmenbedingungen ziehen, welche die wirtschaftliche Produktivität lähmen, statt sie zu stimulieren. Williamsons Untersuchungen zur vertikalen Kooperation von Unternehmen hatten einen wesentlichen Einfluß auf das amerikanische Antitrust-Recht (transaction cost economies). Solche Kooperationen müssen nicht auf dem Streben nach Marktmacht beruhen, wie die Neoklassik annahm, sondern können dazu geeignet sein, die Effizienz wirtschaftlicher Transaktionen zu steigern. Die property rights-Theorie leistete entscheidende Beiträge zur vergleichenden Analyse von Wirtschaftssystemen, zur Analyse externer Effekte und zur Theorie der Unternehmung (so können beispielsweise die Verfügungsrechte in Aktiengesellschaften mit breit gestreutem Anteilsbesitz "verdünnt" sein). - Vgl. auch Ordnungsökonomik VIII.
Literatur: Coase, R. H., The Nature of the Firm, in: Ecomica, Vol. 4, S. 386-405 (1937); Dietl, H., Institutionen und Zeit, Tübingen 1993; North, D. C., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge/New York u. a. 1990 (deutsch: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992); North, D. C., Institutions and Credible Commitment, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 149, S. 11-23 (1993); Richter, R., Sichtweise und Fragestellungen der Neuen Institutionenökonomik, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 110. Jahrgang, S. 571-579 (1990); ders., Institutionenökonomische Aspekte der Theorie der Unternehmung, in: Ordelheide, D., Rudolph, B., Büsselmann, E. (Hrsg.), Betriebswirtschaftslehre und ökonomische Theorie, S. 395-429, Stuttgart 1991; Williamson, O. E., A Comparison of Alternative Approaches to Economic Organization, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 146, S. 61-71 (1990).

 

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