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Wirtschafts- und Sozialkybernetik
I. Begriff: Die W.- u. S. ist eine fachbereichsbezogene Kybernetik. Die Kybernetik (vom griech. Wortstamm kybernetes = Steuermann) ist eine Theorie aller dynamischen Systeme (Begründer L. von Bertalanffy, 1932). Sie beschäftigt sich insbes. mit der Informationsverarbeitung in dynamischen Systemen und mit deren Regelung und Steuerung. Die Kybernetik erforscht die wesentlichen Eigenschaften von dynamischen Systemen, damit diese die relevanten Informationen verarbeiten können und die Systeme zielgerecht gelenkt werden bzw. sich selbst entsprechend lenken. Als Basiswissenschaft besitzt die Kybernetik fachübergreifende Bedeutung für alle Einzelwissenschaften, die sich mit dynamischen Systemen beschäftigen. - Voraussetzung für die Bildung kybernetischer Modelle ist, daß die Struktur und das Verhalten der dynamischen Systeme erforscht werden. Die Struktur eines dynamischen Systems ist durch die Systemgrenzen, die Teilsysteme und die Elemente der Teilsysteme gekennzeichnet. Die Beziehungen zwischen den Stukturelementen, d. h. zwischen dem System und seiner Umwelt, zwischen den Teilsystemen und zwischen allen einzelnen Systemelementen, werden durch den Fluß von Materie, Energie und/oder Informationen hergestellt. Sie werden im kybernetischen Modell in Relationen überführt. Das Verhalten eines Systems wird durch die Art dieser Beziehungen bzw. Relationen charakterisiert. Hierbei interessieren u. a. folgende Fragen: Ist das System stabil? D. h., strebt es einem Gleichgewichtszustand - trotz Störungen - zu? Bei welcher Größenordnung einer Störung ist das weitere Bestehen des Systems gefährdet? Welche Zeit benötigt ein System, um eine Störung zu bewältigen? Treten bleibende Regelabweichungen auf, d. h., bleibt das System auch nach langer Zeit noch vom Gleichgewichtszustand entfernt? Ist das System beobachtbar und steuerbar? - Die allgemeine Kybernetik wollte die Erforschung der dynamischen Systeme in allen Wissenschaften nach dem gleichen Ansatz vorantreiben. Die Kybernetiker haben nämlich erkannt, daß das Verhalten ganz unterschiedlicher Systeme ähnlichen "Gesetzmäßigkeiten" gehorchen kann und daß deshalb das Problem der Lenkung und Informationsverarbeitung in allen diesen Bereichen mit ähnlichen wissenschaftlichen Methoden zu erforschen ist. Wegen ihres hohen Abstraktionsgrades ist die allgemeine Kybernetik aber zu fachbereichsbezogenen Kybernetiken weiterentwickelt worden. - Die Wirtschaftskybernetik widmet ihr Forschungsinteresse den dynamischen Systemen Unternehmung und Volkswirtschaft. Anders als in der Ingenieur-Kybernetik spielt in diesen beiden Systemtypen das Verhalten von Menschen eine wesentliche Rolle. Die W.- u. S. setzt zur Lenkung von Systemen und zur Informationsverarbeitung in ihnen zwar soweit wie möglich mathematische Methoden und Elektronenrechner ein, doch versucht sie, die (nur) qualitativ erfaßbaren Eigenschaften mit ihren Methoden und Instrumenten ebenfalls zu berücksichtigen.
II. Entstehung: 1. Die Kybernetik wurde von einer Gruppe von Wissenschaftlern auf den Gebieten der Ingenieurwissenschaften, der Physiologie und der Mathematik bei einem wissenschaftlichen Kongreß im Jahre 1943 in Princeton/USA aus der Taufe gehoben - geboren wurde sie allerdings schon viel früher. So hat Ludwig v. Bertalanffy in seinem Werk "Theoretische Biologie" (1932) die Grundlagen der Kybernetik formuliert, und Hermann Schmidt hat bereits 1940 bei einem Vortrag eine "Allgemeine Regelungskunde" vorgeschlagen. Im Mittelpunkt des Kongresses von 1943 stand der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener, der die Kybernetik durch sein 1948 erschienenes Buch "Cybernetics" später bekannt machte. Er fand auch den Namen für das neue Gebiet. Mit dieser Namensgebung wollte er die Leistung von Clerk Maxwell anerkennen, der bereits im Jahre 1868 eine theoretische Untersuchung über kreiskausale Rückkoppelungsprozesse geschrieben und damit eine gut entwickelte Rückkoppelungstheorie vorgelegt hatte. Maxwell nannte seinen Fliehkraft-Regler "Governor" und Wiener übernahm den griechischen Stamm dieses Wortes (vgl. I.). - 2. In den Wirtschaftswissenschaften spielte die Analyse der Lenkungsvorgänge in ökonomischen Systemen von Anfang an eine maßgebliche Rolle. Die Volkswirtschaftslehre begann damit, folgende Fragen intensiv zu behandeln: Wie kann man den gerechten Preis und den gerechten Zins finden und durchsetzen (einregeln)? Oder: Wie bildet sich der Preis am Markt, d. h., durch welche Vorgänge "pendelt" (regelt) er sich ein? Diese Fragen sind typische volkswirtschaftliche Lenkungsprobleme. - In der Betriebswirtschaftslehre hat der kybernetische Ansatz gezeigt, daß reine Planungs-Modelle durch Ansätze, in die die Überwachung der Pläne integriert ist, ersetzt werden müssen. Z. B. sind die Probleme der Abstimmung zwischen Produktion, Lagerung und Absatz bei saisonalen oder konjunkturellen Änderungen der Nachfrage durch entsprechende Planungs-Überwachungs-Modelle gelöst worden.
III. Vorgehensweise: Die Vorgehensweise der W.- u. S. besteht in einer schrittweisen Detaillierung (Disaggregation) der Systembeschreibung bis zu einem Erklärungsmodell, das die Zusammenhänge zwischen den wirtschaftlichen Entscheidungen und den problemrelevanten Prozessen beschreibt. Die Systembeschreibung erfordert eine auf den betrachteten Realitätsausschnitt bezogene Struktur- und Verhaltensanalyse, an die sich die theoretische und empirische Modellbildung anschließt. Auf dieser Basis erfolgt die Ermittlung des optimalen oder auch des anspruchsniveau-gerechten Verhaltens der Entscheidungsträger mit Optimierungskalkülen oder Simulations-Tests zur Vorgabe von Sollwerten oder Sollwert-Pfaden für die konkreten Aufgaben in der Praxis.
IV. Steuerung und Regelung: Die unter den Begriffen Planung, Realisation und Überwachung bekannten Ordnungs- und Gestaltungsaufgaben der Wirtschaftswissenschaften entsprechen den Prinzipien der Steuerung und Regelung (= Rückkoppelungsprinzip) der Kybernetik. Unter Steuerung versteht man die Anweisung an ein Systemelement, Störungen unmittelbar bei ihrem Auftreten entgegenzuwirken. Die Störung selbst löst die Gegenmaßnahme aus, über deren Erfolg keine Rückmeldung stattfindet. Die Steuerung eines Prozesses entspricht dem Prinzip der Prognose. Unter Regelung versteht man die Überwachung des Ergebnisses eines bestimmten Prozesses, so daß bei einer nicht tolerierbaren Abweichung des Istwertes vom Sollwert eine entsprechende Korrekturanweisung ausgelöst wird. Der Regler hält je nach Typ die zu überwachende Größe konstant, in einem definierten Intervall oder z. B. auf einem Maximalwert. Bei der Frage, ob der Regelkreis nach erfolgter Korrektur noch einmal, mehrmals oder permanent durchlaufen wird, spielen oftmals Kostenkalküle eine Rolle. Die Regelung eines Prozesses entspricht dem Prinzip der Diagnose. In vielen Fällen bietet sich eine Kombination der beiden Prinzipien Steuerung und Regelung, darstellbar in einen Regelkreis mit Störgrößenaufschaltung, als Problemlösung an, da sich die beiden Prinzipien sehr gut ergänzen (vgl. die Abbildung, die einen Regelkreis mit Störgrößenaufschaltung in allgemeiner Form zeigt).
V. Möglichkeiten und Vorteile: Die Anwendung der W.- u. S. bietet die Möglichkeit, dynamische Entscheidungsprobleme unter Ungewißheit theoretisch und empirisch zu erforschen und in Modelle zu überführen. Dem Entscheidungsträger wird dadurch eine Entscheidungshilfe für alle Phasen seines Entscheidungsprozesses (Planung, Realisation, Überwachung) gegeben. Die Operationalisierung komplizierter Systeme ist möglich, insbes. durch schrittweise Erweiterung der Modelle (Modelltechnik) und die Einbindung von Kostenüberlegungen durch die Bewertung der einzelnen Systemelemente. Es lassen sich stochastische Relationen berücksichtigen und die Modelle sind bei Verwendung des Regelprinzips ex definitione flexibel, da sie den veränderten Informationsstand bei Entscheidungen in der Zukunft berücksichtigen und Zieländerungen im Zeitablauf erfassen können. Viele wirklichkeitsfremde Prämissen reiner Planungsmodelle lassen sich durch die Anwendung der W.- u. S. abbauen.
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